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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 116. Das Verfahren um handhafte That.
durch die Missethat, wie eine jüngere Rechtsquelle sagt, selbst fried-
los gemacht 10. Er konnte daher angesichts der Nachbarn, die auf
das Gerüfte hin herbeigeeilt waren, von jedermann, nicht bloss von
dem Verletzten, getötet werden. Die Tötung war Achtvollzug. Sie
konnte in der Form ritueller Hinrichtung geschehen. Um sie zu be-
schliessen, mochten sich die Verfolger als ein Notgericht konstituieren.
Bei Verbrechen, die nicht allgemeine Friedlosigkeit, sondern nur ein
Fehde- und Racherecht des Verletzten und seiner Sippe begründeten,
hatten auch im Fall der handhaften That nur diese das Recht der
Tötung.

Im Laufe der Zeit gestaltete sich das Verfahren um handhafte
That mehr und mehr zum Rechtsverfahren. Die alte Volksjusitz --
vom Standpunkte heutiger Gesittung aus könnte man sie etwa Lynch-
justiz nennen -- wurde regelmässig durch amtliche Justiz ersetzt, die
allgemeine Befugnis der Tötung zur Befugnis der Festnahme ein-
geschränkt. Nur für bestimmte Ausnahmefälle erhielt sich das alte
Recht. So wird bei manchen Stämmen noch die Tötung jedes hand-
haften Diebes 11, oder doch des nächtlichen Diebes gestattet 12, oder
auch des Diebes, der sich unterhalb des Hauses durchzugraben ver-
sucht 13. Den handhaften Brandstifter zu töten, erlauben friesische
und nordische Quellen 14. Handhaften Tempelraub bestraften die Ost-
friesen noch in karolingischer Zeit in der Form des heidnischen
Menschenopfers. Der Tempelräuber wurde, wie ein Zusatz zur Lex
Frisionum berichtet, an den Strand des Meeres geführt, wo man ihm
die Ohren schlitzte, ihn entmannte und den Göttern opferte, deren
Heiligtum er geschändet hatte 15. Allgemein erhielt sich in Fällen

10 Glosse zu Ssp. I 51: etliche werden von dem richter friedlos vorteilet ..
die andern seindt die, so was begehen, domit sie sich selbst friedloss machen, als
die so zu nachts inn der leute heusser brechen ...
11 Bei den Angelsachsen. Wihträd 25. 26. Ine 16. 21. 35. Aethelstan VI 7.
Wohl auch bei den Anglowarnen. Lex Angl. et Werin. 39. Vereinzelt findet sich
das Recht, den handhaften Dieb an den First des Hauses zu hängen, noch in
deutschen Weistümern. Grimm, Weistümer III 803.
12 Lex Wisig. VII 2, 16. Lex Burg. 27, 9. Lex Baiuw. IX 5. Lex Sax. 32.
13 Lex Fris. 5, 1. Decr. Tassil. Niuh. c. 3, LL III 464. Das langobardische
Recht verwehrt es, den Dieb zu töten, der sich freiwillig ergiebt, indem er die
Hände zur Fesselung darreicht. Roth. 32. Vgl. Aethelstan VI 12, 1.
14 Lex Fris. 5, 1. Wilda, Strafrecht S. 945. Siehe unten § 141.
15 Lex Fris. Add. 11. Nach einer dem westerlauwerschen Friesland ange-
gehörigen jüngeren Rechtsaufzeichnung soll man dem handhaften Schächer die
beiden Arme und die beiden Schienbeine mit einem eisernen Stiel oder Stab ent-
zweischlagen. Dann führe man ihn an den Strand und mit ihm einen Galgen und
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§ 116. Das Verfahren um handhafte That.
durch die Missethat, wie eine jüngere Rechtsquelle sagt, selbst fried-
los gemacht 10. Er konnte daher angesichts der Nachbarn, die auf
das Gerüfte hin herbeigeeilt waren, von jedermann, nicht bloſs von
dem Verletzten, getötet werden. Die Tötung war Achtvollzug. Sie
konnte in der Form ritueller Hinrichtung geschehen. Um sie zu be-
schlieſsen, mochten sich die Verfolger als ein Notgericht konstituieren.
Bei Verbrechen, die nicht allgemeine Friedlosigkeit, sondern nur ein
Fehde- und Racherecht des Verletzten und seiner Sippe begründeten,
hatten auch im Fall der handhaften That nur diese das Recht der
Tötung.

Im Laufe der Zeit gestaltete sich das Verfahren um handhafte
That mehr und mehr zum Rechtsverfahren. Die alte Volksjusitz —
vom Standpunkte heutiger Gesittung aus könnte man sie etwa Lynch-
justiz nennen — wurde regelmäſsig durch amtliche Justiz ersetzt, die
allgemeine Befugnis der Tötung zur Befugnis der Festnahme ein-
geschränkt. Nur für bestimmte Ausnahmefälle erhielt sich das alte
Recht. So wird bei manchen Stämmen noch die Tötung jedes hand-
haften Diebes 11, oder doch des nächtlichen Diebes gestattet 12, oder
auch des Diebes, der sich unterhalb des Hauses durchzugraben ver-
sucht 13. Den handhaften Brandstifter zu töten, erlauben friesische
und nordische Quellen 14. Handhaften Tempelraub bestraften die Ost-
friesen noch in karolingischer Zeit in der Form des heidnischen
Menschenopfers. Der Tempelräuber wurde, wie ein Zusatz zur Lex
Frisionum berichtet, an den Strand des Meeres geführt, wo man ihm
die Ohren schlitzte, ihn entmannte und den Göttern opferte, deren
Heiligtum er geschändet hatte 15. Allgemein erhielt sich in Fällen

10 Glosse zu Ssp. I 51: etliche werden von dem richter friedlos vorteilet ..
die andern seindt die, so was begehen, domit sie sich selbst friedloſs machen, als
die so zu nachts inn der leute heusser brechen …
11 Bei den Angelsachsen. Wihträd 25. 26. Ine 16. 21. 35. Aethelstan VI 7.
Wohl auch bei den Anglowarnen. Lex Angl. et Werin. 39. Vereinzelt findet sich
das Recht, den handhaften Dieb an den First des Hauses zu hängen, noch in
deutschen Weistümern. Grimm, Weistümer III 803.
12 Lex Wisig. VII 2, 16. Lex Burg. 27, 9. Lex Baiuw. IX 5. Lex Sax. 32.
13 Lex Fris. 5, 1. Decr. Tassil. Niuh. c. 3, LL III 464. Das langobardische
Recht verwehrt es, den Dieb zu töten, der sich freiwillig ergiebt, indem er die
Hände zur Fesselung darreicht. Roth. 32. Vgl. Aethelstan VI 12, 1.
14 Lex Fris. 5, 1. Wilda, Strafrecht S. 945. Siehe unten § 141.
15 Lex Fris. Add. 11. Nach einer dem westerlauwerschen Friesland ange-
gehörigen jüngeren Rechtsaufzeichnung soll man dem handhaften Schächer die
beiden Arme und die beiden Schienbeine mit einem eisernen Stiel oder Stab ent-
zweischlagen. Dann führe man ihn an den Strand und mit ihm einen Galgen und
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[483/0501] § 116. Das Verfahren um handhafte That. durch die Missethat, wie eine jüngere Rechtsquelle sagt, selbst fried- los gemacht 10. Er konnte daher angesichts der Nachbarn, die auf das Gerüfte hin herbeigeeilt waren, von jedermann, nicht bloſs von dem Verletzten, getötet werden. Die Tötung war Achtvollzug. Sie konnte in der Form ritueller Hinrichtung geschehen. Um sie zu be- schlieſsen, mochten sich die Verfolger als ein Notgericht konstituieren. Bei Verbrechen, die nicht allgemeine Friedlosigkeit, sondern nur ein Fehde- und Racherecht des Verletzten und seiner Sippe begründeten, hatten auch im Fall der handhaften That nur diese das Recht der Tötung. Im Laufe der Zeit gestaltete sich das Verfahren um handhafte That mehr und mehr zum Rechtsverfahren. Die alte Volksjusitz — vom Standpunkte heutiger Gesittung aus könnte man sie etwa Lynch- justiz nennen — wurde regelmäſsig durch amtliche Justiz ersetzt, die allgemeine Befugnis der Tötung zur Befugnis der Festnahme ein- geschränkt. Nur für bestimmte Ausnahmefälle erhielt sich das alte Recht. So wird bei manchen Stämmen noch die Tötung jedes hand- haften Diebes 11, oder doch des nächtlichen Diebes gestattet 12, oder auch des Diebes, der sich unterhalb des Hauses durchzugraben ver- sucht 13. Den handhaften Brandstifter zu töten, erlauben friesische und nordische Quellen 14. Handhaften Tempelraub bestraften die Ost- friesen noch in karolingischer Zeit in der Form des heidnischen Menschenopfers. Der Tempelräuber wurde, wie ein Zusatz zur Lex Frisionum berichtet, an den Strand des Meeres geführt, wo man ihm die Ohren schlitzte, ihn entmannte und den Göttern opferte, deren Heiligtum er geschändet hatte 15. Allgemein erhielt sich in Fällen 10 Glosse zu Ssp. I 51: etliche werden von dem richter friedlos vorteilet .. die andern seindt die, so was begehen, domit sie sich selbst friedloſs machen, als die so zu nachts inn der leute heusser brechen … 11 Bei den Angelsachsen. Wihträd 25. 26. Ine 16. 21. 35. Aethelstan VI 7. Wohl auch bei den Anglowarnen. Lex Angl. et Werin. 39. Vereinzelt findet sich das Recht, den handhaften Dieb an den First des Hauses zu hängen, noch in deutschen Weistümern. Grimm, Weistümer III 803. 12 Lex Wisig. VII 2, 16. Lex Burg. 27, 9. Lex Baiuw. IX 5. Lex Sax. 32. 13 Lex Fris. 5, 1. Decr. Tassil. Niuh. c. 3, LL III 464. Das langobardische Recht verwehrt es, den Dieb zu töten, der sich freiwillig ergiebt, indem er die Hände zur Fesselung darreicht. Roth. 32. Vgl. Aethelstan VI 12, 1. 14 Lex Fris. 5, 1. Wilda, Strafrecht S. 945. Siehe unten § 141. 15 Lex Fris. Add. 11. Nach einer dem westerlauwerschen Friesland ange- gehörigen jüngeren Rechtsaufzeichnung soll man dem handhaften Schächer die beiden Arme und die beiden Schienbeine mit einem eisernen Stiel oder Stab ent- zweischlagen. Dann führe man ihn an den Strand und mit ihm einen Galgen und 31*

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 483. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/501>, abgerufen am 22.11.2024.