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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 117. Vorgehen von Amtswegen. Insbesondere das Rügeverfahren.
thäter, um Personen, die als homines criminosi bekannt waren. All-
gemein ist jenes summarische Verfahren nicht geworden. Nur in
Bezug auf Diebe, Zauberer und Hexen begegnet uns in karolingischen
Kapitularien eine verwandte Vorschrift 6. So viel sich ersehen lässt,
geht das jüngere Recht gegen Verbrecher, die nicht auf handhafter
That ertappt oder rechtsförmlich angeklagt worden sind, regelmässig
im Wege des Rügeverfahrens vor.

Das Rügeverfahren 7 ist ein amtliches Verfahren gegen verdächtige
Leute (famosi, clamodici), die es auf Grund richterlicher Untersuchung
in die Zwangslage versetzt, sich entweder durch eines der volksrecht-
lichen Beweismittel zu reinigen, oder amtliche Bestrafung zu dulden.
Die Anfänge der Einrichtung liegen im Dunklen. So praktisch be-
deutsam die Rolle gewesen sein muss, die das Rügeverfahren im
Rechtsleben der fränkischen Zeit spielte, sind doch die Nachrichten
der Quellen ausserordentlich dürftig. Das oben geschilderte Verfahren,
welches nach salischem Rechte bei Todschlagsverdacht Platz griff,
darf nur als Vorstufe des Rügeverfahrens betrachtet werden. Dieses
tritt uns zuerst in karolingischen Kapitularien für Italien, und zwar als
eine nach fränkischem Vorbilde von oben her eingeführte Neuerung
entgegen. Sind auch die Zeugnisse des eigentlich fränkischen Quellen-
kreises jünger und spärlicher, so lässt doch die spätere Entwicklung
und Ausbreitung des Rügeverfahrens keinen Zweifel offen, dass das
fränkische Stammesgebiet seine ursprüngliche Heimat war.

Das Rügeverfahren beginnt damit, dass der Richter die glaub-
würdigsten und angesehensten Männer des Untersuchungsbezirkes vor-
ladet und ihnen einen Eid abnimmt, dass sie bestimmte von vorn-
herein genannte Verbrechen rügen werden, oder dass sie schlechtweg
die Wahrheit aussagen werden über das, was der Richter sie fragen
werde 8. Eine uns überlieferte westfränkische Formel des Eides über
Rüge von Raub und Diebstahl enthält zugleich das Gelöbnis des

6 Cap. de latronibus c. 4, I 180: et antequam per bonorum hominum liberorum
testimonium bonam famam habentium reprobentur aut per iudicium Dei, nequaquam
disciplinis constringantur ... Cap. Carisiac. v. J. 873, c. 7, Pertz, LL I 520.
7 Rügen got. vrohjan, altsächs. wrogjan, ags. wregan, fries. wrogia, ahd. rogan
oder ruogen für älteres wrogjan.
8 Pipp. Cap. 782--786, c. 8, I 192: iudex unusquisque per civitatem faciat
iurare ad Dei iudicia homines credentes iuxta quantos praeviderit .., ut cui ex ipsis
cognitum fuerit, id est homicidia, furta, adulteria et de inlicitas coniunctiones, ut
nemo eas concelet. Unter den iudicia Dei sind die Evangelien gemeint, wie die
Urkunde bei Ficker, Forschungen IV 8 v. J. 806, ergiebt. Die in meiner Ent-
stehung der Schwurgerichte S. 460 gegebene Erklärung habe ich Z f. RG XI 317 ff.
zurückgenommen und berichtigt.

§ 117. Vorgehen von Amtswegen. Insbesondere das Rügeverfahren.
thäter, um Personen, die als homines criminosi bekannt waren. All-
gemein ist jenes summarische Verfahren nicht geworden. Nur in
Bezug auf Diebe, Zauberer und Hexen begegnet uns in karolingischen
Kapitularien eine verwandte Vorschrift 6. So viel sich ersehen läſst,
geht das jüngere Recht gegen Verbrecher, die nicht auf handhafter
That ertappt oder rechtsförmlich angeklagt worden sind, regelmäſsig
im Wege des Rügeverfahrens vor.

Das Rügeverfahren 7 ist ein amtliches Verfahren gegen verdächtige
Leute (famosi, clamodici), die es auf Grund richterlicher Untersuchung
in die Zwangslage versetzt, sich entweder durch eines der volksrecht-
lichen Beweismittel zu reinigen, oder amtliche Bestrafung zu dulden.
Die Anfänge der Einrichtung liegen im Dunklen. So praktisch be-
deutsam die Rolle gewesen sein muſs, die das Rügeverfahren im
Rechtsleben der fränkischen Zeit spielte, sind doch die Nachrichten
der Quellen auſserordentlich dürftig. Das oben geschilderte Verfahren,
welches nach salischem Rechte bei Todschlagsverdacht Platz griff,
darf nur als Vorstufe des Rügeverfahrens betrachtet werden. Dieses
tritt uns zuerst in karolingischen Kapitularien für Italien, und zwar als
eine nach fränkischem Vorbilde von oben her eingeführte Neuerung
entgegen. Sind auch die Zeugnisse des eigentlich fränkischen Quellen-
kreises jünger und spärlicher, so läſst doch die spätere Entwicklung
und Ausbreitung des Rügeverfahrens keinen Zweifel offen, daſs das
fränkische Stammesgebiet seine ursprüngliche Heimat war.

Das Rügeverfahren beginnt damit, daſs der Richter die glaub-
würdigsten und angesehensten Männer des Untersuchungsbezirkes vor-
ladet und ihnen einen Eid abnimmt, daſs sie bestimmte von vorn-
herein genannte Verbrechen rügen werden, oder daſs sie schlechtweg
die Wahrheit aussagen werden über das, was der Richter sie fragen
werde 8. Eine uns überlieferte westfränkische Formel des Eides über
Rüge von Raub und Diebstahl enthält zugleich das Gelöbnis des

6 Cap. de latronibus c. 4, I 180: et antequam per bonorum hominum liberorum
testimonium bonam famam habentium reprobentur aut per iudicium Dei, nequaquam
disciplinis constringantur … Cap. Carisiac. v. J. 873, c. 7, Pertz, LL I 520.
7 Rügen got. vrôhjan, altsächs. wrôgjan, ags. wrégan, fries. wrôgia, ahd. rôgan
oder ruogen für älteres wrôgjan.
8 Pipp. Cap. 782—786, c. 8, I 192: iudex unusquisque per civitatem faciat
iurare ad Dei iudicia homines credentes iuxta quantos praeviderit .., ut cui ex ipsis
cognitum fuerit, id est homicidia, furta, adulteria et de inlicitas coniunctiones, ut
nemo eas concelet. Unter den iudicia Dei sind die Evangelien gemeint, wie die
Urkunde bei Ficker, Forschungen IV 8 v. J. 806, ergiebt. Die in meiner Ent-
stehung der Schwurgerichte S. 460 gegebene Erklärung habe ich Z f. RG XI 317 ff.
zurückgenommen und berichtigt.
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[490/0508] § 117. Vorgehen von Amtswegen. Insbesondere das Rügeverfahren. thäter, um Personen, die als homines criminosi bekannt waren. All- gemein ist jenes summarische Verfahren nicht geworden. Nur in Bezug auf Diebe, Zauberer und Hexen begegnet uns in karolingischen Kapitularien eine verwandte Vorschrift 6. So viel sich ersehen läſst, geht das jüngere Recht gegen Verbrecher, die nicht auf handhafter That ertappt oder rechtsförmlich angeklagt worden sind, regelmäſsig im Wege des Rügeverfahrens vor. Das Rügeverfahren 7 ist ein amtliches Verfahren gegen verdächtige Leute (famosi, clamodici), die es auf Grund richterlicher Untersuchung in die Zwangslage versetzt, sich entweder durch eines der volksrecht- lichen Beweismittel zu reinigen, oder amtliche Bestrafung zu dulden. Die Anfänge der Einrichtung liegen im Dunklen. So praktisch be- deutsam die Rolle gewesen sein muſs, die das Rügeverfahren im Rechtsleben der fränkischen Zeit spielte, sind doch die Nachrichten der Quellen auſserordentlich dürftig. Das oben geschilderte Verfahren, welches nach salischem Rechte bei Todschlagsverdacht Platz griff, darf nur als Vorstufe des Rügeverfahrens betrachtet werden. Dieses tritt uns zuerst in karolingischen Kapitularien für Italien, und zwar als eine nach fränkischem Vorbilde von oben her eingeführte Neuerung entgegen. Sind auch die Zeugnisse des eigentlich fränkischen Quellen- kreises jünger und spärlicher, so läſst doch die spätere Entwicklung und Ausbreitung des Rügeverfahrens keinen Zweifel offen, daſs das fränkische Stammesgebiet seine ursprüngliche Heimat war. Das Rügeverfahren beginnt damit, daſs der Richter die glaub- würdigsten und angesehensten Männer des Untersuchungsbezirkes vor- ladet und ihnen einen Eid abnimmt, daſs sie bestimmte von vorn- herein genannte Verbrechen rügen werden, oder daſs sie schlechtweg die Wahrheit aussagen werden über das, was der Richter sie fragen werde 8. Eine uns überlieferte westfränkische Formel des Eides über Rüge von Raub und Diebstahl enthält zugleich das Gelöbnis des 6 Cap. de latronibus c. 4, I 180: et antequam per bonorum hominum liberorum testimonium bonam famam habentium reprobentur aut per iudicium Dei, nequaquam disciplinis constringantur … Cap. Carisiac. v. J. 873, c. 7, Pertz, LL I 520. 7 Rügen got. vrôhjan, altsächs. wrôgjan, ags. wrégan, fries. wrôgia, ahd. rôgan oder ruogen für älteres wrôgjan. 8 Pipp. Cap. 782—786, c. 8, I 192: iudex unusquisque per civitatem faciat iurare ad Dei iudicia homines credentes iuxta quantos praeviderit .., ut cui ex ipsis cognitum fuerit, id est homicidia, furta, adulteria et de inlicitas coniunctiones, ut nemo eas concelet. Unter den iudicia Dei sind die Evangelien gemeint, wie die Urkunde bei Ficker, Forschungen IV 8 v. J. 806, ergiebt. Die in meiner Ent- stehung der Schwurgerichte S. 460 gegebene Erklärung habe ich Z f. RG XI 317 ff. zurückgenommen und berichtigt.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 490. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/508>, abgerufen am 22.11.2024.