Als strafbare Begünstigung behandeln die Quellen den Fall, dass man einen Gehängten ohne Erlaubnis des Richters vom Galgen nimmt, eine Handlung, die in heidnischer Zeit ein delictum sui generis und zwar ein Verbrechen religiöser Natur gewesen sein muss. War der Verbrecher noch am Leben, so büsste der Befreier nach älterem salischem Rechte das halbe Wergeld 16, wogegen er nach einer jüngeren Novelle zur Lex Salica sein Leben verlieren oder um das volle Wergeld einlösen sollte 17. Geringere Bussen verfielen, wenn der Gehängte schon tot war 18. Als Begünstiger, fautores, fasst ein italienisches Kapitular v. J. 850 auch diejenigen auf, welche die Tötung eines Räubers rächen 19.
Todesstrafe setzt die Lex Salica, wenn jemand den gebundenen Verbrecher dem Richter entreisst und dadurch der drohenden Be- strafung entzieht 20. Todesstrafe trifft nach der Decretio Childeberts II. den Richter, der den überführten Dieb befreit 21, nach einem Kapi- tular Karls des Grossen den gräflichen Unterbeamten, der sich be- stechen lässt, den vom Grafen zum Tode verurteilten Dieb dem Tode zu entziehen 22.
Hinsichtlich der Begünstigung von Verbrechern, die weder ge- ächtet, noch verurteilt, noch vor den Richter gebracht worden sind, ist zu unterscheiden zwischen Missethaten, bei denen die nachmals sogenannte Taidigung oder Richtung ausgeschlossen, und solchen, bei denen sie erlaubt ist. Taidigung oder Richtung bedeutet die ausser- gerichtliche Abfindung des Missethäters mit dem Verletzten. Das Ver- bot der Taidigung begegnet uns zuerst bei Diebstahl und Raub, wurde aber wahrscheinlich auf alle Verbrechen ausgedehnt, die man von Amts wegen verfolgte 23. Die fränkischen Volksrechte erklären es für strafbar, wenn jemand den Dieb, den er gebunden hatte, ohne Erlaubnis des Richters freilässt oder es versäumt, ihn vor den Richter
20 Lex Sal. 32, 5 (Cod. 6 ff.): si quis ligatum per superbiam aut per virtutem ad graphione (al. a gravione, grafioni) tulerit, de vita sua redimat. Siehe Her- mann, Noch ein Wort über Mithio (1890) S. 17.
21 Childeb. II decretio, c. 7, Cap. I 17.
22 Cap. Aquisgr. 801--813, c. 13, I 171.
23 Roth. 200 schliesst die Taidigung aus zwischen dem Ehemann, der seine Frau rechtswidrig getötet hat, und deren Verwandten; denn jener soll 1200 Solidi zur Hälfte den Verwandten, zur Hälfte dem Fiskus büssen, ita ut per actorem regis distringatur et poena suprascripta componatur.
§ 129. Die Begünstigung.
Als strafbare Begünstigung behandeln die Quellen den Fall, daſs man einen Gehängten ohne Erlaubnis des Richters vom Galgen nimmt, eine Handlung, die in heidnischer Zeit ein delictum sui generis und zwar ein Verbrechen religiöser Natur gewesen sein muſs. War der Verbrecher noch am Leben, so büſste der Befreier nach älterem salischem Rechte das halbe Wergeld 16, wogegen er nach einer jüngeren Novelle zur Lex Salica sein Leben verlieren oder um das volle Wergeld einlösen sollte 17. Geringere Buſsen verfielen, wenn der Gehängte schon tot war 18. Als Begünstiger, fautores, faſst ein italienisches Kapitular v. J. 850 auch diejenigen auf, welche die Tötung eines Räubers rächen 19.
Todesstrafe setzt die Lex Salica, wenn jemand den gebundenen Verbrecher dem Richter entreiſst und dadurch der drohenden Be- strafung entzieht 20. Todesstrafe trifft nach der Decretio Childeberts II. den Richter, der den überführten Dieb befreit 21, nach einem Kapi- tular Karls des Groſsen den gräflichen Unterbeamten, der sich be- stechen läſst, den vom Grafen zum Tode verurteilten Dieb dem Tode zu entziehen 22.
Hinsichtlich der Begünstigung von Verbrechern, die weder ge- ächtet, noch verurteilt, noch vor den Richter gebracht worden sind, ist zu unterscheiden zwischen Missethaten, bei denen die nachmals sogenannte Taidigung oder Richtung ausgeschlossen, und solchen, bei denen sie erlaubt ist. Taidigung oder Richtung bedeutet die auſser- gerichtliche Abfindung des Missethäters mit dem Verletzten. Das Ver- bot der Taidigung begegnet uns zuerst bei Diebstahl und Raub, wurde aber wahrscheinlich auf alle Verbrechen ausgedehnt, die man von Amts wegen verfolgte 23. Die fränkischen Volksrechte erklären es für strafbar, wenn jemand den Dieb, den er gebunden hatte, ohne Erlaubnis des Richters freiläſst oder es versäumt, ihn vor den Richter
20 Lex Sal. 32, 5 (Cod. 6 ff.): si quis ligatum per superbiam aut per virtutem ad graphione (al. a gravione, grafioni) tulerit, de vita sua redimat. Siehe Her- mann, Noch ein Wort über Mithio (1890) S. 17.
21 Childeb. II decretio, c. 7, Cap. I 17.
22 Cap. Aquisgr. 801—813, c. 13, I 171.
23 Roth. 200 schlieſst die Taidigung aus zwischen dem Ehemann, der seine Frau rechtswidrig getötet hat, und deren Verwandten; denn jener soll 1200 Solidi zur Hälfte den Verwandten, zur Hälfte dem Fiskus büſsen, ita ut per actorem regis distringatur et poena suprascripta componatur.
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§ 129. Die Begünstigung.
Als strafbare Begünstigung behandeln die Quellen den Fall, daſs
man einen Gehängten ohne Erlaubnis des Richters vom Galgen nimmt,
eine Handlung, die in heidnischer Zeit ein delictum sui generis und
zwar ein Verbrechen religiöser Natur gewesen sein muſs. War der
Verbrecher noch am Leben, so büſste der Befreier nach älterem salischem
Rechte das halbe Wergeld 16, wogegen er nach einer jüngeren Novelle
zur Lex Salica sein Leben verlieren oder um das volle Wergeld
einlösen sollte 17. Geringere Buſsen verfielen, wenn der Gehängte
schon tot war 18. Als Begünstiger, fautores, faſst ein italienisches
Kapitular v. J. 850 auch diejenigen auf, welche die Tötung eines Räubers
rächen 19.
Todesstrafe setzt die Lex Salica, wenn jemand den gebundenen
Verbrecher dem Richter entreiſst und dadurch der drohenden Be-
strafung entzieht 20. Todesstrafe trifft nach der Decretio Childeberts II.
den Richter, der den überführten Dieb befreit 21, nach einem Kapi-
tular Karls des Groſsen den gräflichen Unterbeamten, der sich be-
stechen läſst, den vom Grafen zum Tode verurteilten Dieb dem Tode
zu entziehen 22.
Hinsichtlich der Begünstigung von Verbrechern, die weder ge-
ächtet, noch verurteilt, noch vor den Richter gebracht worden sind,
ist zu unterscheiden zwischen Missethaten, bei denen die nachmals
sogenannte Taidigung oder Richtung ausgeschlossen, und solchen, bei
denen sie erlaubt ist. Taidigung oder Richtung bedeutet die auſser-
gerichtliche Abfindung des Missethäters mit dem Verletzten. Das Ver-
bot der Taidigung begegnet uns zuerst bei Diebstahl und Raub,
wurde aber wahrscheinlich auf alle Verbrechen ausgedehnt, die man
von Amts wegen verfolgte 23. Die fränkischen Volksrechte erklären
es für strafbar, wenn jemand den Dieb, den er gebunden hatte, ohne
Erlaubnis des Richters freiläſst oder es versäumt, ihn vor den Richter
16 Lex Sal. Hessels 68.
17 Lex Sal. Hessels 107, 2.
18 Lex Sal. 41 (Cod. 7 ff. 74); 67; 107, 3. Vgl. unten § 145.
19 Cap. Papiense v. J. 850, c. 3, II 86.
20 Lex Sal. 32, 5 (Cod. 6 ff.): si quis ligatum per superbiam aut per virtutem
ad graphione (al. a gravione, grafioni) tulerit, de vita sua redimat. Siehe Her-
mann, Noch ein Wort über Mithio (1890) S. 17.
21 Childeb. II decretio, c. 7, Cap. I 17.
22 Cap. Aquisgr. 801—813, c. 13, I 171.
23 Roth. 200 schlieſst die Taidigung aus zwischen dem Ehemann, der seine
Frau rechtswidrig getötet hat, und deren Verwandten; denn jener soll 1200 Solidi
zur Hälfte den Verwandten, zur Hälfte dem Fiskus büſsen, ita ut per actorem regis
distringatur et poena suprascripta componatur.
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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 578. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/596>, abgerufen am 22.11.2024.
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