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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 134. Die Leibesstrafen.

Uralt sind die Strafen zu Haut und Haar. Manche von ihnen
haben den Charakter einer gewaltsamen schimpflichen Austreibung.
Schon nach Tacitus züchtigt der Mann die Ehebrecherin, indem er sie
mit abgeschnittenen Haaren und entblösst aus dem Hause und aus
dem Dorfe peitscht21. Verwandt ist eine Strafsatzung Liutprands, nach
welcher verbrecherische Weiber skalpiert und mit Schlägen durch die
benachbarten Dörfer gejagt werden sollen22. Das norwegische Gassen-
laufen des geschorenen, getheerten und gefederten Diebes wirkte ent-
weder als Tötung oder als Austreibung des Verbrechers in den nächsten
Wald23. Manchmal diente der Verlust von Haut und Haar als Vor-
bereitung der Todesstrafe24, manchmal als Vorspiel der Verbannung25.

Regelmässig wird die Strafe zu Haut und Haar selbständig und
zwar bei geringeren Missethaten angedroht. Sie hat ihren Namen
davon, dass dem Missethäter die Haut zerschlagen und das Haupthaar
genommen wird. Der deutschen Alliteration Haut und Haar, die
nachmals so häufig begegnet, entsprechen in den lateinisch geschriebenen
Quellen die zum Teil schon für die fränkische Zeit bezeugten Wen-
dungen cutis et capilli, corium et capilli, corium et crines, pellis
et pili26.

An die Haut geht die Strafe als Prügelstrafe oder als Geisselung.
Für beides wird vapulare und flagellare gebraucht. Entweder erfolgt
sie so, dass man den Missethäter auf eine Bank hinstreckt27, oder dass
man ihn an einen Stauppfahl (mhd. staupe) bindet28. Wo die Zahl

21 Germ. c. 19.
22 Liu. 141. Vgl. Lex Wisig. VI 2, 3: publice verberentur et decalvati de-
formitur decem convicinas possessiones circuire cogantur inviti ...
23 Siehe oben S. 468, Anm. 2.
24 Lex Wisig. III 2, 2. Leges Henrici primi 75, § 1.
25 Annales Mosell. z. J. 791, MG SS XVI 498: alii flagellati atque exiliati
sunt. Vgl. Annales Fuldenses z. J. 879: aliosque etiam capillis et cute detracta
cum magna confusione inde expulerunt.
26 Ungefähr um das Jahr 887 fordert ein bischöflicher vicedominus den Guts-
verwalter von Bohlingen auf, Vorbereitungen zum Empfang eines Bischofs zu treffen,
ut, quando ego venero, omnia parata inveniam, si cutem et capillos habere volueris.
Collectio Sangall. Nr. 35 bei Zeumer, Formulae S. 419. Im übrigen siehe Osen-
brüggen,
Alam. Strafr. S. 94 f.
27 Lex Sal. 40, 6. Vgl. Gregor. Tur. Hist. Franc. VI 35.
28 Liber hist. Franc. c. 45, SS rer. Merow. II 318. Cap. legg. add. 818/9,
c. 16, I 284. Die Lex Salica schreibt Ruthen (virgae) von der Stärke des kleinen
Fingers vor. Westfränkische Kapitularien unterscheiden ictus und minutae virgae
oder grossus fustis und virga. Cap. Carisiac. v. J. 861, Pertz LL I 477. Cap. Pist.
v. J. 864, c. 15, Pertz, LL I 491. Vgl. Leseur in der Nouv. Revue histor. de
droit francais 1888, S. 714 f.
§ 134. Die Leibesstrafen.

Uralt sind die Strafen zu Haut und Haar. Manche von ihnen
haben den Charakter einer gewaltsamen schimpflichen Austreibung.
Schon nach Tacitus züchtigt der Mann die Ehebrecherin, indem er sie
mit abgeschnittenen Haaren und entblöſst aus dem Hause und aus
dem Dorfe peitscht21. Verwandt ist eine Strafsatzung Liutprands, nach
welcher verbrecherische Weiber skalpiert und mit Schlägen durch die
benachbarten Dörfer gejagt werden sollen22. Das norwegische Gassen-
laufen des geschorenen, getheerten und gefederten Diebes wirkte ent-
weder als Tötung oder als Austreibung des Verbrechers in den nächsten
Wald23. Manchmal diente der Verlust von Haut und Haar als Vor-
bereitung der Todesstrafe24, manchmal als Vorspiel der Verbannung25.

Regelmäſsig wird die Strafe zu Haut und Haar selbständig und
zwar bei geringeren Missethaten angedroht. Sie hat ihren Namen
davon, daſs dem Missethäter die Haut zerschlagen und das Haupthaar
genommen wird. Der deutschen Alliteration Haut und Haar, die
nachmals so häufig begegnet, entsprechen in den lateinisch geschriebenen
Quellen die zum Teil schon für die fränkische Zeit bezeugten Wen-
dungen cutis et capilli, corium et capilli, corium et crines, pellis
et pili26.

An die Haut geht die Strafe als Prügelstrafe oder als Geiſselung.
Für beides wird vapulare und flagellare gebraucht. Entweder erfolgt
sie so, daſs man den Missethäter auf eine Bank hinstreckt27, oder daſs
man ihn an einen Stauppfahl (mhd. stûpe) bindet28. Wo die Zahl

21 Germ. c. 19.
22 Liu. 141. Vgl. Lex Wisig. VI 2, 3: publice verberentur et decalvati de-
formitur decem convicinas possessiones circuire cogantur inviti …
23 Siehe oben S. 468, Anm. 2.
24 Lex Wisig. III 2, 2. Leges Henrici primi 75, § 1.
25 Annales Mosell. z. J. 791, MG SS XVI 498: alii flagellati atque exiliati
sunt. Vgl. Annales Fuldenses z. J. 879: aliosque etiam capillis et cute detracta
cum magna confusione inde expulerunt.
26 Ungefähr um das Jahr 887 fordert ein bischöflicher vicedominus den Guts-
verwalter von Bohlingen auf, Vorbereitungen zum Empfang eines Bischofs zu treffen,
ut, quando ego venero, omnia parata inveniam, si cutem et capillos habere volueris.
Collectio Sangall. Nr. 35 bei Zeumer, Formulae S. 419. Im übrigen siehe Osen-
brüggen,
Alam. Strafr. S. 94 f.
27 Lex Sal. 40, 6. Vgl. Gregor. Tur. Hist. Franc. VI 35.
28 Liber hist. Franc. c. 45, SS rer. Merow. II 318. Cap. legg. add. 818/9,
c. 16, I 284. Die Lex Salica schreibt Ruthen (virgae) von der Stärke des kleinen
Fingers vor. Westfränkische Kapitularien unterscheiden ictus und minutae virgae
oder grossus fustis und virga. Cap. Carisiac. v. J. 861, Pertz LL I 477. Cap. Pist.
v. J. 864, c. 15, Pertz, LL I 491. Vgl. Leseur in der Nouv. Revue histor. de
droit français 1888, S. 714 f.
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[605/0623] § 134. Die Leibesstrafen. Uralt sind die Strafen zu Haut und Haar. Manche von ihnen haben den Charakter einer gewaltsamen schimpflichen Austreibung. Schon nach Tacitus züchtigt der Mann die Ehebrecherin, indem er sie mit abgeschnittenen Haaren und entblöſst aus dem Hause und aus dem Dorfe peitscht 21. Verwandt ist eine Strafsatzung Liutprands, nach welcher verbrecherische Weiber skalpiert und mit Schlägen durch die benachbarten Dörfer gejagt werden sollen 22. Das norwegische Gassen- laufen des geschorenen, getheerten und gefederten Diebes wirkte ent- weder als Tötung oder als Austreibung des Verbrechers in den nächsten Wald 23. Manchmal diente der Verlust von Haut und Haar als Vor- bereitung der Todesstrafe 24, manchmal als Vorspiel der Verbannung 25. Regelmäſsig wird die Strafe zu Haut und Haar selbständig und zwar bei geringeren Missethaten angedroht. Sie hat ihren Namen davon, daſs dem Missethäter die Haut zerschlagen und das Haupthaar genommen wird. Der deutschen Alliteration Haut und Haar, die nachmals so häufig begegnet, entsprechen in den lateinisch geschriebenen Quellen die zum Teil schon für die fränkische Zeit bezeugten Wen- dungen cutis et capilli, corium et capilli, corium et crines, pellis et pili 26. An die Haut geht die Strafe als Prügelstrafe oder als Geiſselung. Für beides wird vapulare und flagellare gebraucht. Entweder erfolgt sie so, daſs man den Missethäter auf eine Bank hinstreckt 27, oder daſs man ihn an einen Stauppfahl (mhd. stûpe) bindet 28. Wo die Zahl 21 Germ. c. 19. 22 Liu. 141. Vgl. Lex Wisig. VI 2, 3: publice verberentur et decalvati de- formitur decem convicinas possessiones circuire cogantur inviti … 23 Siehe oben S. 468, Anm. 2. 24 Lex Wisig. III 2, 2. Leges Henrici primi 75, § 1. 25 Annales Mosell. z. J. 791, MG SS XVI 498: alii flagellati atque exiliati sunt. Vgl. Annales Fuldenses z. J. 879: aliosque etiam capillis et cute detracta cum magna confusione inde expulerunt. 26 Ungefähr um das Jahr 887 fordert ein bischöflicher vicedominus den Guts- verwalter von Bohlingen auf, Vorbereitungen zum Empfang eines Bischofs zu treffen, ut, quando ego venero, omnia parata inveniam, si cutem et capillos habere volueris. Collectio Sangall. Nr. 35 bei Zeumer, Formulae S. 419. Im übrigen siehe Osen- brüggen, Alam. Strafr. S. 94 f. 27 Lex Sal. 40, 6. Vgl. Gregor. Tur. Hist. Franc. VI 35. 28 Liber hist. Franc. c. 45, SS rer. Merow. II 318. Cap. legg. add. 818/9, c. 16, I 284. Die Lex Salica schreibt Ruthen (virgae) von der Stärke des kleinen Fingers vor. Westfränkische Kapitularien unterscheiden ictus und minutae virgae oder grossus fustis und virga. Cap. Carisiac. v. J. 861, Pertz LL I 477. Cap. Pist. v. J. 864, c. 15, Pertz, LL I 491. Vgl. Leseur in der Nouv. Revue histor. de droit français 1888, S. 714 f.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 605. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/623>, abgerufen am 22.11.2024.