Buchner, Wilhelm: Das ärztliche Studium der Frauen. In: Die Grenzboten 3 (1892). S. 205-212, 251-258.Das ärztliche Studium der Frauen ländern und Amerikanern zurückgeblieben. Es gebe in Deutschland tausendeund abertausende von Mädchen gerade in dem gebildeten Mittelstande, denen unsre gesellschaftlichen Verhältnisse die Ehe, unsre Wirtschafts- und Unter- richtsverhältnisse versagten, sich eine bescheidne Existenz zu schaffen. Die Petition verlange zuerst alle wissenschaftlichen Berufe, dann zunächst und vor allem die Ausübung des ärztlichen Berufs. Man habe außerdem wissen- schaftliche Vorbereitung für den Beruf der Lehrerin gefordert; aber der Wunsch, mehr Lehrerinnen auf der Oberstufe höherer Mädchenschulen zu beschäftigen, gründe sich weniger auf die wissenschaftliche als auf die gemütliche Bedeutung eines erhöhten Einflusses weiblicher Mitwirkung. Man werde doch wohl Bedenken tragen müssen, dem in erster Linie stehenden Verlangen nach Errich- tung eines Mädchengymnasiums zuzustimmen; einstweilen dürfte die Zulassung von privatim ausgebildeten Mädchen zu den Prüfungen an den bestehenden Gymnasien oder einigen von ihnen, wobei gleichzeitig die Berechtigung zum Besuche wenigstens einer deutschen Universität ausgesprochen werden müßte, vollständig genügen. Der Berichterstatter schlug demnach vor, über den ersten Antrag der Petition zur Tagesordnung überzugehen, den zweiten, die Zu- lassung zur Reifeprüfung der Gymnasien, der königlichen Regierung zur Er- wägung zu überweisen. Der Regierungskommissar Geheimer Oberregierungsrat Dr. Schneider Frau Kettler ließ sich aber durch diesen Mißerfolg nicht abschrecken, Grenzboten III 1892 27
Das ärztliche Studium der Frauen ländern und Amerikanern zurückgeblieben. Es gebe in Deutschland tausendeund abertausende von Mädchen gerade in dem gebildeten Mittelstande, denen unsre gesellschaftlichen Verhältnisse die Ehe, unsre Wirtschafts- und Unter- richtsverhältnisse versagten, sich eine bescheidne Existenz zu schaffen. Die Petition verlange zuerst alle wissenschaftlichen Berufe, dann zunächst und vor allem die Ausübung des ärztlichen Berufs. Man habe außerdem wissen- schaftliche Vorbereitung für den Beruf der Lehrerin gefordert; aber der Wunsch, mehr Lehrerinnen auf der Oberstufe höherer Mädchenschulen zu beschäftigen, gründe sich weniger auf die wissenschaftliche als auf die gemütliche Bedeutung eines erhöhten Einflusses weiblicher Mitwirkung. Man werde doch wohl Bedenken tragen müssen, dem in erster Linie stehenden Verlangen nach Errich- tung eines Mädchengymnasiums zuzustimmen; einstweilen dürfte die Zulassung von privatim ausgebildeten Mädchen zu den Prüfungen an den bestehenden Gymnasien oder einigen von ihnen, wobei gleichzeitig die Berechtigung zum Besuche wenigstens einer deutschen Universität ausgesprochen werden müßte, vollständig genügen. Der Berichterstatter schlug demnach vor, über den ersten Antrag der Petition zur Tagesordnung überzugehen, den zweiten, die Zu- lassung zur Reifeprüfung der Gymnasien, der königlichen Regierung zur Er- wägung zu überweisen. Der Regierungskommissar Geheimer Oberregierungsrat Dr. Schneider Frau Kettler ließ sich aber durch diesen Mißerfolg nicht abschrecken, Grenzboten III 1892 27
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Das ärztliche Studium der Frauen
ländern und Amerikanern zurückgeblieben. Es gebe in Deutschland tausende
und abertausende von Mädchen gerade in dem gebildeten Mittelstande, denen
unsre gesellschaftlichen Verhältnisse die Ehe, unsre Wirtschafts- und Unter-
richtsverhältnisse versagten, sich eine bescheidne Existenz zu schaffen. Die
Petition verlange zuerst alle wissenschaftlichen Berufe, dann zunächst und vor
allem die Ausübung des ärztlichen Berufs. Man habe außerdem wissen-
schaftliche Vorbereitung für den Beruf der Lehrerin gefordert; aber der Wunsch,
mehr Lehrerinnen auf der Oberstufe höherer Mädchenschulen zu beschäftigen,
gründe sich weniger auf die wissenschaftliche als auf die gemütliche Bedeutung
eines erhöhten Einflusses weiblicher Mitwirkung. Man werde doch wohl
Bedenken tragen müssen, dem in erster Linie stehenden Verlangen nach Errich-
tung eines Mädchengymnasiums zuzustimmen; einstweilen dürfte die Zulassung
von privatim ausgebildeten Mädchen zu den Prüfungen an den bestehenden
Gymnasien oder einigen von ihnen, wobei gleichzeitig die Berechtigung zum
Besuche wenigstens einer deutschen Universität ausgesprochen werden müßte,
vollständig genügen. Der Berichterstatter schlug demnach vor, über den ersten
Antrag der Petition zur Tagesordnung überzugehen, den zweiten, die Zu-
lassung zur Reifeprüfung der Gymnasien, der königlichen Regierung zur Er-
wägung zu überweisen.
Der Regierungskommissar Geheimer Oberregierungsrat Dr. Schneider
empfahl über beide Anträge zur Tagesordnung überzugehen. Der Zeitpunkt
sei übel gewählt, weil das Gymnasialwesen eben in einer Wandlung begriffen
sei. Der Vorschlag der Frau Kettler gefährde unsre Mädchenbildung und
-Erziehung. Die Gymnasiasten blieben in der Regel bis zum zwanzigsten Jahre
und würden in den letzten Jahren gerade besonders angestrengt; es sei be-
denklich, in diesen Jahren Mädchen eine andauernde sitzende Thätigkeit zuzu-
muten. Unser Mädchenschulwesen sei in glücklicher Entwicklung, die man nicht
stören dürfe, das geschehe aber, wenn man verlange, daß die Mädchen zu den
Bildungszielen auf denselben Wegen kämen wie die Knaben. Die Rücksicht
auf die verschwindend kleine Zahl der zukünftigen Ärztinnen könne ungünstig
auf den Charakter der höhern Mädchenschule wirken, wie es schon die Rücksicht
auf die Vorbildung einzelner Schülerinnen für den Lehrberuf thue. Nach
längerer Verhandlung für und wider wurde dem Antrage des Berichterstatters
gemäß beschlossen; übrigens kam die Frage wegen des Schlusses der Session
im Hause der Abgeordneten nicht mehr zur Verhandlung.
Frau Kettler ließ sich aber durch diesen Mißerfolg nicht abschrecken,
sondern richtete wohl Ende 1891 oder Anfang 1892 – an verschiedne deutsche
Abgeordnetenhäuser einen etwas veränderten Antrag. Die Zeitungen haben
über den Erfolg dieser Gesuche berichtet. Hessen lehnte, soviel mir erinnerlich
ist, ab; im badischen Abgeordnetenhause legte die Unterrichtskommission in der
Sitzung vom 5. März 1892 folgenden Antrag vor:
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