Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bücher, Karl: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

Die meisten Menschen haben in volkswirtschaftlichen
und sozialen Dingen eine sehr bestimmte Meinung über
das, was sein soll, viel bestimmter oft als über das,
was ist. Was nach ihrem Bedünken sein sollte, braucht
durchaus nicht ein Idealzustand, ein nie Wirklichkeit ge-
wesenes Phantasiegebilde zu sein. Sehr oft ist es viel-
mehr eine Vorstellung, die dem Thatsachenkreise einer näheren
oder entfernteren Vergangenheit entnommen ist und die
durch lange Gewöhnung für uns den Charakter des Nor-
malen
angenommen hat.

So geht es, wenn ich mich nicht täusche, vielen unserer
Zeitgenossen auch mit dem, was wir Handwerk nennen
und mit der sog. Handwerkerfrage. Wir haben uns einmal
daran gewöhnt, das Handwerk als die normale gewerbliche
Betriebsform zu betrachten, nachdem dasselbe in Deutsch-
land über ein halbes Jahrtausend das Leben des Bürger-
standes beherrscht hat. Das Sprichwort sagt: Handwerk
hat einen goldenen Boden, und die Beobachtung lehrt, daß
dieser Boden heute nicht mehr golden ist. Wir fragen uns,
wie jener glückliche Zustand zurückgeführt, das Handwerk
"wiederbelebt" werden könne.

Bücher, Die Entstehung der Volkswirtschaft. 6

Die meiſten Menſchen haben in volkswirtſchaftlichen
und ſozialen Dingen eine ſehr beſtimmte Meinung über
das, was ſein ſoll, viel beſtimmter oft als über das,
was iſt. Was nach ihrem Bedünken ſein ſollte, braucht
durchaus nicht ein Idealzuſtand, ein nie Wirklichkeit ge-
weſenes Phantaſiegebilde zu ſein. Sehr oft iſt es viel-
mehr eine Vorſtellung, die dem Thatſachenkreiſe einer näheren
oder entfernteren Vergangenheit entnommen iſt und die
durch lange Gewöhnung für uns den Charakter des Nor-
malen
angenommen hat.

So geht es, wenn ich mich nicht täuſche, vielen unſerer
Zeitgenoſſen auch mit dem, was wir Handwerk nennen
und mit der ſog. Handwerkerfrage. Wir haben uns einmal
daran gewöhnt, das Handwerk als die normale gewerbliche
Betriebsform zu betrachten, nachdem dasſelbe in Deutſch-
land über ein halbes Jahrtauſend das Leben des Bürger-
ſtandes beherrſcht hat. Das Sprichwort ſagt: Handwerk
hat einen goldenen Boden, und die Beobachtung lehrt, daß
dieſer Boden heute nicht mehr golden iſt. Wir fragen uns,
wie jener glückliche Zuſtand zurückgeführt, das Handwerk
„wiederbelebt“ werden könne.

Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 6
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0103" n="[81]"/>
          <p>Die mei&#x017F;ten Men&#x017F;chen haben in volkswirt&#x017F;chaftlichen<lb/>
und &#x017F;ozialen Dingen eine &#x017F;ehr be&#x017F;timmte Meinung über<lb/>
das, <hi rendition="#g">was &#x017F;ein &#x017F;oll</hi>, viel be&#x017F;timmter oft als über das,<lb/><hi rendition="#g">was i&#x017F;t</hi>. Was nach ihrem Bedünken &#x017F;ein &#x017F;ollte, braucht<lb/>
durchaus nicht ein Idealzu&#x017F;tand, ein nie Wirklichkeit ge-<lb/>
we&#x017F;enes Phanta&#x017F;iegebilde zu &#x017F;ein. Sehr oft i&#x017F;t es viel-<lb/>
mehr eine Vor&#x017F;tellung, die dem That&#x017F;achenkrei&#x017F;e einer näheren<lb/>
oder entfernteren Vergangenheit entnommen i&#x017F;t und die<lb/>
durch lange Gewöhnung für uns den Charakter des <hi rendition="#g">Nor-<lb/>
malen</hi> angenommen hat.</p><lb/>
          <p>So geht es, wenn ich mich nicht täu&#x017F;che, vielen un&#x017F;erer<lb/>
Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en auch mit dem, was wir <hi rendition="#g">Handwerk</hi> nennen<lb/>
und mit der &#x017F;og. Handwerkerfrage. Wir haben uns einmal<lb/>
daran gewöhnt, das Handwerk als die normale gewerbliche<lb/>
Betriebsform zu betrachten, nachdem das&#x017F;elbe in Deut&#x017F;ch-<lb/>
land über ein halbes Jahrtau&#x017F;end das Leben des Bürger-<lb/>
&#x017F;tandes beherr&#x017F;cht hat. Das Sprichwort &#x017F;agt: Handwerk<lb/>
hat einen goldenen Boden, und die Beobachtung lehrt, daß<lb/>
die&#x017F;er Boden heute nicht mehr golden i&#x017F;t. Wir fragen uns,<lb/>
wie jener glückliche Zu&#x017F;tand zurückgeführt, das Handwerk<lb/>
&#x201E;wiederbelebt&#x201C; werden könne.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Bücher</hi>, Die Ent&#x017F;tehung der Volkswirt&#x017F;chaft. 6</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[81]/0103] Die meiſten Menſchen haben in volkswirtſchaftlichen und ſozialen Dingen eine ſehr beſtimmte Meinung über das, was ſein ſoll, viel beſtimmter oft als über das, was iſt. Was nach ihrem Bedünken ſein ſollte, braucht durchaus nicht ein Idealzuſtand, ein nie Wirklichkeit ge- weſenes Phantaſiegebilde zu ſein. Sehr oft iſt es viel- mehr eine Vorſtellung, die dem Thatſachenkreiſe einer näheren oder entfernteren Vergangenheit entnommen iſt und die durch lange Gewöhnung für uns den Charakter des Nor- malen angenommen hat. So geht es, wenn ich mich nicht täuſche, vielen unſerer Zeitgenoſſen auch mit dem, was wir Handwerk nennen und mit der ſog. Handwerkerfrage. Wir haben uns einmal daran gewöhnt, das Handwerk als die normale gewerbliche Betriebsform zu betrachten, nachdem dasſelbe in Deutſch- land über ein halbes Jahrtauſend das Leben des Bürger- ſtandes beherrſcht hat. Das Sprichwort ſagt: Handwerk hat einen goldenen Boden, und die Beobachtung lehrt, daß dieſer Boden heute nicht mehr golden iſt. Wir fragen uns, wie jener glückliche Zuſtand zurückgeführt, das Handwerk „wiederbelebt“ werden könne. Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 6

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/buecher_volkswirtschaft_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/buecher_volkswirtschaft_1893/103
Zitationshilfe: Bücher, Karl: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, 1893, S. [81]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buecher_volkswirtschaft_1893/103>, abgerufen am 24.11.2024.