Will man die soziale Gliederung einer mittelalterlichen Stadtbevölkerung begreifen, so muß man sich zuvörderst des großen Unterschieds bewußt werden, welcher zwischen Staat und Gesellschaft im Mittelalter und in der Neuzeit besteht.
Jenes weite Gebiet menschlicher Massenzusammenhänge und Wechselwirkungen, welches uns die moderne Gesellschaft darstellt, ist im Mittelalter ebenso wenig vorhanden, als die allumfassende Machtfülle und Einheit des gegenwärtigen Staates. Beide fehlten, weil es an der zusammenfassenden Kraft gebrach, welche in den gemeinsamen Interessen eines gleichartigen Verkehrslebens liegt.
Für den Staat bedarf dies keines langen Beweises. Hat doch schon längst der wissenschaftliche Sprachgebrauch, wenn er von einer "deutschen Kaisergeschichte" spricht, wo früher von einer "Reichsgeschichte" die Rede war, aner- kannt, daß die zusammenfassende Kraft des alten Reiches in der Persönlichkeit des Kaisers lag. Wissen wir doch Alle, daß das Reich zerfiel, wenn der Kaiser ein schwacher Mann war, daß es wieder erstarkte, wenn kraftvolle Herr- scher an die Spitze traten, welche überall persönlich er-
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Will man die ſoziale Gliederung einer mittelalterlichen Stadtbevölkerung begreifen, ſo muß man ſich zuvörderſt des großen Unterſchieds bewußt werden, welcher zwiſchen Staat und Geſellſchaft im Mittelalter und in der Neuzeit beſteht.
Jenes weite Gebiet menſchlicher Maſſenzuſammenhänge und Wechſelwirkungen, welches uns die moderne Geſellſchaft darſtellt, iſt im Mittelalter ebenſo wenig vorhanden, als die allumfaſſende Machtfülle und Einheit des gegenwärtigen Staates. Beide fehlten, weil es an der zuſammenfaſſenden Kraft gebrach, welche in den gemeinſamen Intereſſen eines gleichartigen Verkehrslebens liegt.
Für den Staat bedarf dies keines langen Beweiſes. Hat doch ſchon längſt der wiſſenſchaftliche Sprachgebrauch, wenn er von einer „deutſchen Kaiſergeſchichte“ ſpricht, wo früher von einer „Reichsgeſchichte“ die Rede war, aner- kannt, daß die zuſammenfaſſende Kraft des alten Reiches in der Perſönlichkeit des Kaiſers lag. Wiſſen wir doch Alle, daß das Reich zerfiel, wenn der Kaiſer ein ſchwacher Mann war, daß es wieder erſtarkte, wenn kraftvolle Herr- ſcher an die Spitze traten, welche überall perſönlich er-
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[[211]/0233]
Will man die ſoziale Gliederung einer mittelalterlichen
Stadtbevölkerung begreifen, ſo muß man ſich zuvörderſt des
großen Unterſchieds bewußt werden, welcher zwiſchen Staat
und Geſellſchaft im Mittelalter und in der Neuzeit beſteht.
Jenes weite Gebiet menſchlicher Maſſenzuſammenhänge
und Wechſelwirkungen, welches uns die moderne Geſellſchaft
darſtellt, iſt im Mittelalter ebenſo wenig vorhanden, als
die allumfaſſende Machtfülle und Einheit des gegenwärtigen
Staates. Beide fehlten, weil es an der zuſammenfaſſenden
Kraft gebrach, welche in den gemeinſamen Intereſſen eines
gleichartigen Verkehrslebens liegt.
Für den Staat bedarf dies keines langen Beweiſes.
Hat doch ſchon längſt der wiſſenſchaftliche Sprachgebrauch,
wenn er von einer „deutſchen Kaiſergeſchichte“ ſpricht, wo
früher von einer „Reichsgeſchichte“ die Rede war, aner-
kannt, daß die zuſammenfaſſende Kraft des alten Reiches
in der Perſönlichkeit des Kaiſers lag. Wiſſen wir doch
Alle, daß das Reich zerfiel, wenn der Kaiſer ein ſchwacher
Mann war, daß es wieder erſtarkte, wenn kraftvolle Herr-
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Bücher, Karl: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, 1893, S. [211]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buecher_volkswirtschaft_1893/233>, abgerufen am 24.11.2024.
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