Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bücher, Karl: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

und unserer Sorge bildet, kannte das Mittelalter nicht. Aller-
dings fehlte es nicht an einer massenhaften Einwanderung.
Die glücklichen Erwerbsverhältnisse in der Stadt einerseits,
verbunden mit dem Genuß der persönlichen Freiheit, die
dauernde Rechtsunsicherheit außerhalb der städtischen Mauern
anderseits, die Bedrückung der Hörigen auf dem Lande
trieben Jahr für Jahr Scharen von Zuwanderern herbei.
Und in den Städten nahm man sie gerne auf, um die durch
den Tod gerissenen Lücken auszufüllen und die Aufrecht-
erhaltung der getroffenen Schutz- und Verteidigungsein-
richtungen möglich zu machen. Nach ein paar Jahren ge-
deihlichen Wachstums kam ein neuer Rückschlag, und man
mußte froh sein, wenn man die Volkszahl durch große
Zeiträume im Ganzen stabil erhalten konnte.

Nirgends ist dieser Gang der Bevölkerungsbewegung
deutlicher zu beobachten als an der Stadt Frankfurt
am Main, auf die wir die folgenden Betrachtungen be-
schränken wollen. Eine solche Beschränkung empfiehlt sich
aus doppeltem Grunde. Ein glückliches Geschick hat dem
hiesigen Stadtarchiv einen so reichen Schatz von Verwal-
tungsakten und Urkunden erhalten, daß sich an der Frank-
furter Bevölkerung des XIV. und XV. Jahrhunderts
statistische Forschungen in einem Umfange anstellen lassen,
wie es für keine zweite Stadt Deutschlands möglich sein
dürfte. Und auf der andern Seite ist die hervorragende
Stellung dieser Stadt im Mittelalter eine so unverkennbare
und unbezweifelte, daß man den bei der Untersuchung ihrer

und unſerer Sorge bildet, kannte das Mittelalter nicht. Aller-
dings fehlte es nicht an einer maſſenhaften Einwanderung.
Die glücklichen Erwerbsverhältniſſe in der Stadt einerſeits,
verbunden mit dem Genuß der perſönlichen Freiheit, die
dauernde Rechtsunſicherheit außerhalb der ſtädtiſchen Mauern
anderſeits, die Bedrückung der Hörigen auf dem Lande
trieben Jahr für Jahr Scharen von Zuwanderern herbei.
Und in den Städten nahm man ſie gerne auf, um die durch
den Tod geriſſenen Lücken auszufüllen und die Aufrecht-
erhaltung der getroffenen Schutz- und Verteidigungsein-
richtungen möglich zu machen. Nach ein paar Jahren ge-
deihlichen Wachstums kam ein neuer Rückſchlag, und man
mußte froh ſein, wenn man die Volkszahl durch große
Zeiträume im Ganzen ſtabil erhalten konnte.

Nirgends iſt dieſer Gang der Bevölkerungsbewegung
deutlicher zu beobachten als an der Stadt Frankfurt
am Main, auf die wir die folgenden Betrachtungen be-
ſchränken wollen. Eine ſolche Beſchränkung empfiehlt ſich
aus doppeltem Grunde. Ein glückliches Geſchick hat dem
hieſigen Stadtarchiv einen ſo reichen Schatz von Verwal-
tungsakten und Urkunden erhalten, daß ſich an der Frank-
furter Bevölkerung des XIV. und XV. Jahrhunderts
ſtatiſtiſche Forſchungen in einem Umfange anſtellen laſſen,
wie es für keine zweite Stadt Deutſchlands möglich ſein
dürfte. Und auf der andern Seite iſt die hervorragende
Stellung dieſer Stadt im Mittelalter eine ſo unverkennbare
und unbezweifelte, daß man den bei der Unterſuchung ihrer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0238" n="216"/>
und un&#x017F;erer Sorge bildet, kannte das Mittelalter nicht. Aller-<lb/>
dings fehlte es nicht an einer ma&#x017F;&#x017F;enhaften Einwanderung.<lb/>
Die glücklichen Erwerbsverhältni&#x017F;&#x017F;e in der Stadt einer&#x017F;eits,<lb/>
verbunden mit dem Genuß der per&#x017F;önlichen Freiheit, die<lb/>
dauernde Rechtsun&#x017F;icherheit außerhalb der &#x017F;tädti&#x017F;chen Mauern<lb/>
ander&#x017F;eits, die Bedrückung der Hörigen auf dem Lande<lb/>
trieben Jahr für Jahr Scharen von Zuwanderern herbei.<lb/>
Und in den Städten nahm man &#x017F;ie gerne auf, um die durch<lb/>
den Tod geri&#x017F;&#x017F;enen Lücken auszufüllen und die Aufrecht-<lb/>
erhaltung der getroffenen Schutz- und Verteidigungsein-<lb/>
richtungen möglich zu machen. Nach ein paar Jahren ge-<lb/>
deihlichen Wachstums kam ein neuer Rück&#x017F;chlag, und man<lb/>
mußte froh &#x017F;ein, wenn man die Volkszahl durch große<lb/>
Zeiträume im Ganzen &#x017F;tabil erhalten konnte.</p><lb/>
          <p>Nirgends i&#x017F;t die&#x017F;er Gang der Bevölkerungsbewegung<lb/>
deutlicher zu beobachten als an der Stadt <hi rendition="#g">Frankfurt</hi><lb/>
am Main, auf die wir die folgenden Betrachtungen be-<lb/>
&#x017F;chränken wollen. Eine &#x017F;olche Be&#x017F;chränkung empfiehlt &#x017F;ich<lb/>
aus doppeltem Grunde. Ein glückliches Ge&#x017F;chick hat dem<lb/>
hie&#x017F;igen Stadtarchiv einen &#x017F;o reichen Schatz von Verwal-<lb/>
tungsakten und Urkunden erhalten, daß &#x017F;ich an der Frank-<lb/>
furter Bevölkerung des <hi rendition="#aq">XIV.</hi> und <hi rendition="#aq">XV.</hi> Jahrhunderts<lb/>
&#x017F;tati&#x017F;ti&#x017F;che For&#x017F;chungen in einem Umfange an&#x017F;tellen la&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
wie es für keine zweite Stadt Deut&#x017F;chlands möglich &#x017F;ein<lb/>
dürfte. Und auf der andern Seite i&#x017F;t die hervorragende<lb/>
Stellung die&#x017F;er Stadt im Mittelalter eine &#x017F;o unverkennbare<lb/>
und unbezweifelte, daß man den bei der Unter&#x017F;uchung ihrer<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[216/0238] und unſerer Sorge bildet, kannte das Mittelalter nicht. Aller- dings fehlte es nicht an einer maſſenhaften Einwanderung. Die glücklichen Erwerbsverhältniſſe in der Stadt einerſeits, verbunden mit dem Genuß der perſönlichen Freiheit, die dauernde Rechtsunſicherheit außerhalb der ſtädtiſchen Mauern anderſeits, die Bedrückung der Hörigen auf dem Lande trieben Jahr für Jahr Scharen von Zuwanderern herbei. Und in den Städten nahm man ſie gerne auf, um die durch den Tod geriſſenen Lücken auszufüllen und die Aufrecht- erhaltung der getroffenen Schutz- und Verteidigungsein- richtungen möglich zu machen. Nach ein paar Jahren ge- deihlichen Wachstums kam ein neuer Rückſchlag, und man mußte froh ſein, wenn man die Volkszahl durch große Zeiträume im Ganzen ſtabil erhalten konnte. Nirgends iſt dieſer Gang der Bevölkerungsbewegung deutlicher zu beobachten als an der Stadt Frankfurt am Main, auf die wir die folgenden Betrachtungen be- ſchränken wollen. Eine ſolche Beſchränkung empfiehlt ſich aus doppeltem Grunde. Ein glückliches Geſchick hat dem hieſigen Stadtarchiv einen ſo reichen Schatz von Verwal- tungsakten und Urkunden erhalten, daß ſich an der Frank- furter Bevölkerung des XIV. und XV. Jahrhunderts ſtatiſtiſche Forſchungen in einem Umfange anſtellen laſſen, wie es für keine zweite Stadt Deutſchlands möglich ſein dürfte. Und auf der andern Seite iſt die hervorragende Stellung dieſer Stadt im Mittelalter eine ſo unverkennbare und unbezweifelte, daß man den bei der Unterſuchung ihrer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/buecher_volkswirtschaft_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/buecher_volkswirtschaft_1893/238
Zitationshilfe: Bücher, Karl: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, 1893, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buecher_volkswirtschaft_1893/238>, abgerufen am 24.11.2024.