Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.
die Glocken, die Glocken! (Sie lehnt sich zurück und schließt die Augen.) Sieh, ich wollte, der Rasen wüchse so über mich und die Bienen summten über mir hin; sieh, jetzt bin ich eingekleidet und habe Rosmarin im Haar. Gibt es nicht ein altes Lied: Auf dem Kirchhof will ich liegen, Wie ein Kindlein in der Wiegen. Gouvernante. Armes Kind, wie Sie bleich sind unter Ihren blitzenden Steinen! Lena. O Gott, ich könnte lieben, warum nicht? Man geht ja so einsam und tastet nach einer Hand, die Einen hielte, bis die Leichenfrau die Hände auseinandernähme und sie Jedem über der Brust faltete. Aber warum schlägt man einen Nagel durch zwei Hände, die sich nicht suchten? Was hat meine arme Hand gethan? (Sie zieht einen Ring vom Finger.) Dieser Ring sticht mich wie eine Natter. Gouvernante. Aber -- er soll ja ein wahrer Don Carlos sein. Lena. Aber -- ein Mann -- Gouvernante. Nun? Lena. Den man nicht liebt. (Sie erhebt sich.) Pfui! Siehst du, ich schäme mich. -- Morgen ist aller Duft und Glanz von mir gestreift. Bin ich denn, wie die arme, hilf- lose Quelle, die jedes Bild, das sich über sie bückt, in ihrem stillen Grund abspiegeln muß? Die Blumen öffnen und schließen, wie sie wollen, ihre Kelche der Morgensonne und dem Abendwind. Ist denn die Tochter eines Königs weniger, als eine Blume? Gouvernante (weinend.) Lieber Engel, du bist doch ein wahres Opferlamm.
die Glocken, die Glocken! (Sie lehnt ſich zurück und ſchließt die Augen.) Sieh, ich wollte, der Raſen wüchſe ſo über mich und die Bienen ſummten über mir hin; ſieh, jetzt bin ich eingekleidet und habe Rosmarin im Haar. Gibt es nicht ein altes Lied: Auf dem Kirchhof will ich liegen, Wie ein Kindlein in der Wiegen. Gouvernante. Armes Kind, wie Sie bleich ſind unter Ihren blitzenden Steinen! Lena. O Gott, ich könnte lieben, warum nicht? Man geht ja ſo einſam und taſtet nach einer Hand, die Einen hielte, bis die Leichenfrau die Hände auseinandernähme und ſie Jedem über der Bruſt faltete. Aber warum ſchlägt man einen Nagel durch zwei Hände, die ſich nicht ſuchten? Was hat meine arme Hand gethan? (Sie zieht einen Ring vom Finger.) Dieſer Ring ſticht mich wie eine Natter. Gouvernante. Aber — er ſoll ja ein wahrer Don Carlos ſein. Lena. Aber — ein Mann — Gouvernante. Nun? Lena. Den man nicht liebt. (Sie erhebt ſich.) Pfui! Siehſt du, ich ſchäme mich. — Morgen iſt aller Duft und Glanz von mir geſtreift. Bin ich denn, wie die arme, hilf- loſe Quelle, die jedes Bild, das ſich über ſie bückt, in ihrem ſtillen Grund abſpiegeln muß? Die Blumen öffnen und ſchließen, wie ſie wollen, ihre Kelche der Morgenſonne und dem Abendwind. Iſt denn die Tochter eines Königs weniger, als eine Blume? Gouvernante (weinend.) Lieber Engel, du biſt doch ein wahres Opferlamm. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div type="act" n="3"> <div type="scene" n="4"> <sp who="#LENA"> <p><pb facs="#f0330" n="134"/> die Glocken, die Glocken! <stage>(Sie lehnt ſich zurück und ſchließt die<lb/> Augen.)</stage> Sieh, ich wollte, der Raſen wüchſe ſo über mich<lb/> und die Bienen ſummten über mir hin; ſieh, jetzt bin ich<lb/> eingekleidet und habe Rosmarin im Haar. Gibt es nicht<lb/> ein altes Lied:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>Auf dem Kirchhof will ich liegen,</l><lb/> <l>Wie ein Kindlein in der Wiegen.</l> </lg> </sp><lb/> <sp who="#GOU"> <speaker> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#b">Gouvernante.</hi> </hi> </speaker> <p>Armes Kind, wie Sie bleich ſind unter<lb/> Ihren blitzenden Steinen!</p> </sp><lb/> <sp who="#LENA"> <speaker> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#b">Lena.</hi> </hi> </speaker> <p>O Gott, ich könnte lieben, warum nicht? Man<lb/> geht ja ſo einſam und taſtet nach einer Hand, die Einen<lb/> hielte, bis die Leichenfrau die Hände auseinandernähme und<lb/> ſie Jedem über der Bruſt faltete. Aber warum ſchlägt man<lb/> einen Nagel durch zwei Hände, die ſich nicht ſuchten? Was<lb/> hat meine arme Hand gethan? <stage>(Sie zieht einen Ring vom Finger.)</stage><lb/> Dieſer Ring ſticht mich wie eine Natter.</p> </sp><lb/> <sp who="#GOU"> <speaker> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#b">Gouvernante.</hi> </hi> </speaker> <p>Aber — er ſoll ja ein wahrer Don<lb/> Carlos ſein.</p> </sp><lb/> <sp who="#LENA"> <speaker> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#b">Lena.</hi> </hi> </speaker> <p>Aber — ein Mann —</p> </sp><lb/> <sp who="#GOU"> <speaker> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#b">Gouvernante.</hi> </hi> </speaker> <p>Nun?</p> </sp><lb/> <sp who="#LENA"> <speaker> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#b">Lena.</hi> </hi> </speaker> <p>Den man nicht liebt. <stage>(Sie erhebt ſich.)</stage> Pfui!<lb/> Siehſt du, ich ſchäme mich. — Morgen iſt aller Duft und<lb/> Glanz von mir geſtreift. Bin ich denn, wie die arme, hilf-<lb/> loſe Quelle, die jedes Bild, das ſich über ſie bückt, in ihrem<lb/> ſtillen Grund abſpiegeln muß? Die Blumen öffnen und<lb/> ſchließen, wie ſie wollen, ihre Kelche der Morgenſonne und<lb/> dem Abendwind. Iſt denn die Tochter eines Königs weniger,<lb/> als eine Blume?</p> </sp><lb/> <sp who="#GOU"> <speaker> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#b">Gouvernante</hi> </hi> </speaker> <stage>(weinend.)</stage> <p>Lieber Engel, du biſt doch ein<lb/> wahres Opferlamm.</p> </sp><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [134/0330]
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und die Bienen ſummten über mir hin; ſieh, jetzt bin ich
eingekleidet und habe Rosmarin im Haar. Gibt es nicht
ein altes Lied:
Auf dem Kirchhof will ich liegen,
Wie ein Kindlein in der Wiegen.
Gouvernante. Armes Kind, wie Sie bleich ſind unter
Ihren blitzenden Steinen!
Lena. O Gott, ich könnte lieben, warum nicht? Man
geht ja ſo einſam und taſtet nach einer Hand, die Einen
hielte, bis die Leichenfrau die Hände auseinandernähme und
ſie Jedem über der Bruſt faltete. Aber warum ſchlägt man
einen Nagel durch zwei Hände, die ſich nicht ſuchten? Was
hat meine arme Hand gethan? (Sie zieht einen Ring vom Finger.)
Dieſer Ring ſticht mich wie eine Natter.
Gouvernante. Aber — er ſoll ja ein wahrer Don
Carlos ſein.
Lena. Aber — ein Mann —
Gouvernante. Nun?
Lena. Den man nicht liebt. (Sie erhebt ſich.) Pfui!
Siehſt du, ich ſchäme mich. — Morgen iſt aller Duft und
Glanz von mir geſtreift. Bin ich denn, wie die arme, hilf-
loſe Quelle, die jedes Bild, das ſich über ſie bückt, in ihrem
ſtillen Grund abſpiegeln muß? Die Blumen öffnen und
ſchließen, wie ſie wollen, ihre Kelche der Morgenſonne und
dem Abendwind. Iſt denn die Tochter eines Königs weniger,
als eine Blume?
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