Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

Bild:
<< vorherige Seite
Doctor. Die Natur kommt! die Natur kommt! Aber-
glaube! abscheulicher Aberglaube! Die Natur! Hab' ich nicht
nachgewiesen, daß der musculus sphincter vesicae dem Willen
unterworfen ist? Die Natur! Wozzeck! Der Mensch ist frei!
In dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Frei-
heit! Den Harn nicht halten können! (Schüttelt den Kopf,
legt die Hände auf den Rücken und geht auf und ab.)
Hat Er
schon seine Erbsen gegessen, Wozzeck? Nichts als Erbsen,
nichts als Hülsenfrüchte, merk' Er sich's! Die nächste Woche
fangen wir dann mit Hammelfleisch an. Es gibt eine Re-
volution in der Wissenschaft, ich sprenge sie in die Luft.
Harnstoff, salzsaures Ammonium, Hyperoxydul! -- Wozzeck,
kann Er nicht wieder p--n? geh' Er einmal da hinein und
probir Er's.
Wozzeck. Ich kann nit, Herr Doctor!
Doctor (mit Affect.) Aber an die Wand p--n! Ich
hab's schriftlich, den Accord in der Hand! Ich hab's ge-
seh'n, mit diesen Augen gesehen, ich steckte gerade die Nase
zum Fenster hinaus und ließ die Sonnenstrahlen hineinfallen,
um das Niesen zu beobachten, die Entstehung des Niesens.
Man muß Alles beobachten. Hat Er mir Frösche gefangen?
Laich? Süßwasser-Polypen? Cristatellum? Hat Er? Stoß'
Er mir nicht an's Mikroskop, ich habe den linken Backen-
zahn eines Infusoriums darunter. Aber (tritt auf ihn los) ,
Er hat an die Wand gep--t! -- Nein! -- ich ärgere mich
nicht, ärgern ist ungesund, ist unwissenschaftlich! Ich bin
ruhig, ganz ruhig, mein Puls hat seine gewöhnlichen 60,
und ich sag's Ihm mit der größten Kaltblütigkeit. Behüte,
wer wird sich über einen Menschen ärgern, einen Menschen!
Wenn es noch ein Proteus wäre, der Einem unpäßlich wird!
Doctor. Die Natur kommt! die Natur kommt! Aber-
glaube! abſcheulicher Aberglaube! Die Natur! Hab' ich nicht
nachgewieſen, daß der musculus sphincter vesicae dem Willen
unterworfen iſt? Die Natur! Wozzeck! Der Menſch iſt frei!
In dem Menſchen verklärt ſich die Individualität zur Frei-
heit! Den Harn nicht halten können! (Schüttelt den Kopf,
legt die Hände auf den Rücken und geht auf und ab.)
Hat Er
ſchon ſeine Erbſen gegeſſen, Wozzeck? Nichts als Erbſen,
nichts als Hülſenfrüchte, merk' Er ſich's! Die nächſte Woche
fangen wir dann mit Hammelfleiſch an. Es gibt eine Re-
volution in der Wiſſenſchaft, ich ſprenge ſie in die Luft.
Harnſtoff, ſalzſaures Ammonium, Hyperoxydul! — Wozzeck,
kann Er nicht wieder p—n? geh' Er einmal da hinein und
probir Er's.
Wozzeck. Ich kann nit, Herr Doctor!
Doctor (mit Affect.) Aber an die Wand p—n! Ich
hab's ſchriftlich, den Accord in der Hand! Ich hab's ge-
ſeh'n, mit dieſen Augen geſehen, ich ſteckte gerade die Naſe
zum Fenſter hinaus und ließ die Sonnenſtrahlen hineinfallen,
um das Nieſen zu beobachten, die Entſtehung des Nieſens.
Man muß Alles beobachten. Hat Er mir Fröſche gefangen?
Laich? Süßwaſſer-Polypen? Cristatellum? Hat Er? Stoß'
Er mir nicht an's Mikroſkop, ich habe den linken Backen-
zahn eines Infuſoriums darunter. Aber (tritt auf ihn los) ,
Er hat an die Wand gep—t! — Nein! — ich ärgere mich
nicht, ärgern iſt ungeſund, iſt unwiſſenſchaftlich! Ich bin
ruhig, ganz ruhig, mein Puls hat ſeine gewöhnlichen 60,
und ich ſag's Ihm mit der größten Kaltblütigkeit. Behüte,
wer wird ſich über einen Menſchen ärgern, einen Menſchen!
Wenn es noch ein Proteus wäre, der Einem unpäßlich wird!
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div type="scene" n="3">
            <pb facs="#f0372" n="176"/>
            <sp who="#DOC">
              <speaker> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#b">Doctor.</hi> </hi> </speaker>
              <p>Die Natur kommt! die Natur kommt! Aber-<lb/>
glaube! ab&#x017F;cheulicher Aberglaube! Die Natur! Hab' ich nicht<lb/>
nachgewie&#x017F;en, daß der <hi rendition="#aq">musculus sphincter vesicae</hi> dem Willen<lb/>
unterworfen i&#x017F;t? Die Natur! Wozzeck! Der Men&#x017F;ch i&#x017F;t frei!<lb/>
In dem Men&#x017F;chen verklärt &#x017F;ich die Individualität zur Frei-<lb/>
heit! Den Harn nicht halten können! <stage>(Schüttelt den Kopf,<lb/>
legt die Hände auf den Rücken und geht auf und ab.)</stage> Hat Er<lb/>
&#x017F;chon &#x017F;eine Erb&#x017F;en gege&#x017F;&#x017F;en, Wozzeck? Nichts als Erb&#x017F;en,<lb/>
nichts als Hül&#x017F;enfrüchte, merk' Er &#x017F;ich's! Die näch&#x017F;te Woche<lb/>
fangen wir dann mit Hammelflei&#x017F;ch an. Es gibt eine Re-<lb/>
volution in der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, ich &#x017F;prenge &#x017F;ie in die Luft.<lb/>
Harn&#x017F;toff, &#x017F;alz&#x017F;aures Ammonium, <choice><sic>Hyperorydul</sic><corr>Hyperoxydul</corr></choice>! &#x2014; Wozzeck,<lb/>
kann Er nicht wieder p&#x2014;n? geh' Er einmal da hinein und<lb/>
probir Er's.</p>
            </sp><lb/>
            <sp who="#WOZ">
              <speaker> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#b">Wozzeck.</hi> </hi> </speaker>
              <p>Ich kann nit, Herr Doctor!</p>
            </sp><lb/>
            <sp who="#DOC">
              <speaker> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#b">Doctor</hi> </hi> </speaker>
              <stage>(mit Affect.)</stage>
              <p>Aber an die Wand p&#x2014;n! Ich<lb/>
hab's &#x017F;chriftlich, den Accord in der Hand! Ich hab's ge-<lb/>
&#x017F;eh'n, mit die&#x017F;en Augen ge&#x017F;ehen, ich &#x017F;teckte gerade die Na&#x017F;e<lb/>
zum Fen&#x017F;ter hinaus und ließ die Sonnen&#x017F;trahlen hineinfallen,<lb/>
um das Nie&#x017F;en zu beobachten, die Ent&#x017F;tehung des Nie&#x017F;ens.<lb/>
Man muß Alles beobachten. Hat Er mir Frö&#x017F;che gefangen?<lb/>
Laich? Süßwa&#x017F;&#x017F;er-Polypen? <hi rendition="#aq">Cristatellum?</hi> Hat Er? Stoß'<lb/>
Er mir nicht an's Mikro&#x017F;kop, ich habe den linken Backen-<lb/>
zahn eines Infu&#x017F;oriums darunter. Aber <stage>(tritt auf ihn los)</stage>,<lb/>
Er hat an die Wand gep&#x2014;t! &#x2014; Nein! &#x2014; ich ärgere mich<lb/>
nicht, ärgern i&#x017F;t unge&#x017F;und, i&#x017F;t unwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlich! Ich bin<lb/>
ruhig, ganz ruhig, mein Puls hat &#x017F;eine gewöhnlichen 60,<lb/>
und ich &#x017F;ag's Ihm mit der größten Kaltblütigkeit. Behüte,<lb/>
wer wird &#x017F;ich über einen Men&#x017F;chen ärgern, einen Men&#x017F;chen!<lb/>
Wenn es noch ein Proteus wäre, der Einem unpäßlich wird!<lb/></p>
            </sp>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[176/0372] Doctor. Die Natur kommt! die Natur kommt! Aber- glaube! abſcheulicher Aberglaube! Die Natur! Hab' ich nicht nachgewieſen, daß der musculus sphincter vesicae dem Willen unterworfen iſt? Die Natur! Wozzeck! Der Menſch iſt frei! In dem Menſchen verklärt ſich die Individualität zur Frei- heit! Den Harn nicht halten können! (Schüttelt den Kopf, legt die Hände auf den Rücken und geht auf und ab.) Hat Er ſchon ſeine Erbſen gegeſſen, Wozzeck? Nichts als Erbſen, nichts als Hülſenfrüchte, merk' Er ſich's! Die nächſte Woche fangen wir dann mit Hammelfleiſch an. Es gibt eine Re- volution in der Wiſſenſchaft, ich ſprenge ſie in die Luft. Harnſtoff, ſalzſaures Ammonium, Hyperoxydul! — Wozzeck, kann Er nicht wieder p—n? geh' Er einmal da hinein und probir Er's. Wozzeck. Ich kann nit, Herr Doctor! Doctor (mit Affect.) Aber an die Wand p—n! Ich hab's ſchriftlich, den Accord in der Hand! Ich hab's ge- ſeh'n, mit dieſen Augen geſehen, ich ſteckte gerade die Naſe zum Fenſter hinaus und ließ die Sonnenſtrahlen hineinfallen, um das Nieſen zu beobachten, die Entſtehung des Nieſens. Man muß Alles beobachten. Hat Er mir Fröſche gefangen? Laich? Süßwaſſer-Polypen? Cristatellum? Hat Er? Stoß' Er mir nicht an's Mikroſkop, ich habe den linken Backen- zahn eines Infuſoriums darunter. Aber (tritt auf ihn los), Er hat an die Wand gep—t! — Nein! — ich ärgere mich nicht, ärgern iſt ungeſund, iſt unwiſſenſchaftlich! Ich bin ruhig, ganz ruhig, mein Puls hat ſeine gewöhnlichen 60, und ich ſag's Ihm mit der größten Kaltblütigkeit. Behüte, wer wird ſich über einen Menſchen ärgern, einen Menſchen! Wenn es noch ein Proteus wäre, der Einem unpäßlich wird!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/372
Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/372>, abgerufen am 21.11.2024.