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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

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Auf dem kleinen Kirchhof war der Schnee weg, dunkles
Moos unter den schwarzen Kreuzen, ein verspäteter Rosen-
strauch lehnte an der Kirchhofmauer, verspätete Blumen
dazu unter dem Moose hervor, manchmal Sonne, dann
wieder dunkel. Die Kirche fing an, die Menschenstimmen
begegneten sich im reinen hellen Klang; ein Eindruck, als
schaue man in reines, durchsichtiges Bergwasser. Der Gesang
verhallte. Lenz sprach, er war schüchtern, unter den Tönen
hatte sein Starrkrampf sich ganz gelegt, sein ganzer Schmerz
wachte jetzt auf und legte sich in sein Herz. Ein süßes
Gefühl unendlichen Wohls beschlich ihn. Er sprach einfach
mit den Leuten, sie litten alle mit ihm, und es war ihm
ein Trost, wenn er über einige müdgeweinte Augen Schlaf
und gequälten Herzen Ruhe bringen, wenn er über dieses
von materiellen Bedürfnissen gequälte Sein, diese dumpfen
Leiden, gen Himmel leiten konnte. Er war fester geworden,
wie er schloß, da fingen die Stimmen wieder an:

Laß in mir die heil'gen Schmerzen,
Tiefe Bronnen ganz aufbrechen;
Leiden sei all' mein Gewinnst,
Leiden sei mein Gottesdienst.

Das Drängen in ihm, die Musik, der Schmerz er-
schütterte ihn. Das All war für ihn in Wunden; er fühlte
tiefen unnennbaren Schmerz davon. Jetzt ein anderes Sein,
göttliche, zuckende Lippen bückten sich über ihm aus und
sogen sich an seine Lippen; er ging auf sein einsames Zimmer.
Er war allein, allein! Da rauschte die Quelle, Ströme
brachen aus seinen Augen, er krümmte sich in sich, es zuckten
seine Glieder, es war ihm, als müsse er sich auflösen, er
konnte kein Ende finden der Wollust; endlich dämmerte es

Auf dem kleinen Kirchhof war der Schnee weg, dunkles
Moos unter den ſchwarzen Kreuzen, ein verſpäteter Roſen-
ſtrauch lehnte an der Kirchhofmauer, verſpätete Blumen
dazu unter dem Mooſe hervor, manchmal Sonne, dann
wieder dunkel. Die Kirche fing an, die Menſchenſtimmen
begegneten ſich im reinen hellen Klang; ein Eindruck, als
ſchaue man in reines, durchſichtiges Bergwaſſer. Der Geſang
verhallte. Lenz ſprach, er war ſchüchtern, unter den Tönen
hatte ſein Starrkrampf ſich ganz gelegt, ſein ganzer Schmerz
wachte jetzt auf und legte ſich in ſein Herz. Ein ſüßes
Gefühl unendlichen Wohls beſchlich ihn. Er ſprach einfach
mit den Leuten, ſie litten alle mit ihm, und es war ihm
ein Troſt, wenn er über einige müdgeweinte Augen Schlaf
und gequälten Herzen Ruhe bringen, wenn er über dieſes
von materiellen Bedürfniſſen gequälte Sein, dieſe dumpfen
Leiden, gen Himmel leiten konnte. Er war feſter geworden,
wie er ſchloß, da fingen die Stimmen wieder an:

Laß in mir die heil'gen Schmerzen,
Tiefe Bronnen ganz aufbrechen;
Leiden ſei all' mein Gewinnſt,
Leiden ſei mein Gottesdienſt.

Das Drängen in ihm, die Muſik, der Schmerz er-
ſchütterte ihn. Das All war für ihn in Wunden; er fühlte
tiefen unnennbaren Schmerz davon. Jetzt ein anderes Sein,
göttliche, zuckende Lippen bückten ſich über ihm aus und
ſogen ſich an ſeine Lippen; er ging auf ſein einſames Zimmer.
Er war allein, allein! Da rauſchte die Quelle, Ströme
brachen aus ſeinen Augen, er krümmte ſich in ſich, es zuckten
ſeine Glieder, es war ihm, als müſſe er ſich auflöſen, er
konnte kein Ende finden der Wolluſt; endlich dämmerte es

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[215/0411] Auf dem kleinen Kirchhof war der Schnee weg, dunkles Moos unter den ſchwarzen Kreuzen, ein verſpäteter Roſen- ſtrauch lehnte an der Kirchhofmauer, verſpätete Blumen dazu unter dem Mooſe hervor, manchmal Sonne, dann wieder dunkel. Die Kirche fing an, die Menſchenſtimmen begegneten ſich im reinen hellen Klang; ein Eindruck, als ſchaue man in reines, durchſichtiges Bergwaſſer. Der Geſang verhallte. Lenz ſprach, er war ſchüchtern, unter den Tönen hatte ſein Starrkrampf ſich ganz gelegt, ſein ganzer Schmerz wachte jetzt auf und legte ſich in ſein Herz. Ein ſüßes Gefühl unendlichen Wohls beſchlich ihn. Er ſprach einfach mit den Leuten, ſie litten alle mit ihm, und es war ihm ein Troſt, wenn er über einige müdgeweinte Augen Schlaf und gequälten Herzen Ruhe bringen, wenn er über dieſes von materiellen Bedürfniſſen gequälte Sein, dieſe dumpfen Leiden, gen Himmel leiten konnte. Er war feſter geworden, wie er ſchloß, da fingen die Stimmen wieder an: Laß in mir die heil'gen Schmerzen, Tiefe Bronnen ganz aufbrechen; Leiden ſei all' mein Gewinnſt, Leiden ſei mein Gottesdienſt. Das Drängen in ihm, die Muſik, der Schmerz er- ſchütterte ihn. Das All war für ihn in Wunden; er fühlte tiefen unnennbaren Schmerz davon. Jetzt ein anderes Sein, göttliche, zuckende Lippen bückten ſich über ihm aus und ſogen ſich an ſeine Lippen; er ging auf ſein einſames Zimmer. Er war allein, allein! Da rauſchte die Quelle, Ströme brachen aus ſeinen Augen, er krümmte ſich in ſich, es zuckten ſeine Glieder, es war ihm, als müſſe er ſich auflöſen, er konnte kein Ende finden der Wolluſt; endlich dämmerte es

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Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/411>, abgerufen am 21.11.2024.