Oberlin wußte von Allem nichts; er hatte ihn aufgenommen, gepflegt; er sah es als eine Schickung Gottes, der den Unglücklichen ihm zugesandt hätte, er liebte ihn herzlich. Auch war es Allen nothwendig, daß er da war, er gehörte zu ihnen, als wäre er schon längst da, und Niemand frug, woher er gekommen und wohin er gehen werde. Ueber Tisch war Lenz wieder in guter Stimmung, man sprach von Literatur, er war auf seinem Gebiete; die idealistische Periode fing damals an, Kaufmann war ein Anhänger davon, Lenz widersprach heftig. Er sagte: Die Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung davon; doch seien sie immer noch erträglicher, als die, welche die Wirklichkeit verklären wollten. Er sagte: Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht, wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen, unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen. Ich ver- lange in Allem -- Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist's gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist. Das Gefühl, daß Was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen Beiden und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen. Uebrigens begegne es uns nur selten; in Shakspeare finden wir es, und in den Volksliedern tönt es Einem ganz, in Goethe manchmal entgegen. Alles Uebrige kann man ins Feuer werfen. Die Leute können auch keinen Hundsstall zeichnen. Da wollte man idealistische Gestalten, aber Alles, was ich davon gesehen, sind Holz- puppen. Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur. Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum
Oberlin wußte von Allem nichts; er hatte ihn aufgenommen, gepflegt; er ſah es als eine Schickung Gottes, der den Unglücklichen ihm zugeſandt hätte, er liebte ihn herzlich. Auch war es Allen nothwendig, daß er da war, er gehörte zu ihnen, als wäre er ſchon längſt da, und Niemand frug, woher er gekommen und wohin er gehen werde. Ueber Tiſch war Lenz wieder in guter Stimmung, man ſprach von Literatur, er war auf ſeinem Gebiete; die idealiſtiſche Periode fing damals an, Kaufmann war ein Anhänger davon, Lenz widerſprach heftig. Er ſagte: Die Dichter, von denen man ſage, ſie geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung davon; doch ſeien ſie immer noch erträglicher, als die, welche die Wirklichkeit verklären wollten. Er ſagte: Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht, wie ſie ſein ſoll, und wir können wohl nicht was Beſſeres kleckſen, unſer einziges Beſtreben ſoll ſein, ihm ein wenig nachzuſchaffen. Ich ver- lange in Allem — Leben, Möglichkeit des Daſeins, und dann iſt's gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es ſchön, ob es häßlich iſt. Das Gefühl, daß Was geſchaffen ſei, Leben habe, ſtehe über dieſen Beiden und ſei das einzige Kriterium in Kunſtſachen. Uebrigens begegne es uns nur ſelten; in Shakſpeare finden wir es, und in den Volksliedern tönt es Einem ganz, in Goethe manchmal entgegen. Alles Uebrige kann man ins Feuer werfen. Die Leute können auch keinen Hundsſtall zeichnen. Da wollte man idealiſtiſche Geſtalten, aber Alles, was ich davon geſehen, ſind Holz- puppen. Dieſer Idealismus iſt die ſchmählichſte Verachtung der menſchlichen Natur. Man verſuche es einmal und ſenke ſich in das Leben des Geringſten und gebe es wieder in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0414"n="218"/>
Oberlin wußte von Allem nichts; er hatte ihn aufgenommen,<lb/>
gepflegt; er ſah es als eine Schickung Gottes, der den<lb/>
Unglücklichen ihm zugeſandt hätte, er liebte ihn herzlich.<lb/>
Auch war es Allen nothwendig, daß er da war, er gehörte<lb/>
zu ihnen, als wäre er ſchon längſt da, und Niemand frug,<lb/>
woher er gekommen und wohin er gehen werde. Ueber Tiſch<lb/>
war Lenz wieder in guter Stimmung, man ſprach von<lb/>
Literatur, er war auf ſeinem Gebiete; die idealiſtiſche Periode<lb/>
fing damals an, Kaufmann war ein Anhänger davon, Lenz<lb/>
widerſprach heftig. Er ſagte: Die Dichter, von denen man<lb/>ſage, ſie geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung<lb/>
davon; doch ſeien ſie immer noch erträglicher, als die, welche<lb/>
die Wirklichkeit verklären wollten. Er ſagte: Der liebe<lb/>
Gott hat die Welt wohl gemacht, wie ſie ſein ſoll, und<lb/>
wir können wohl nicht was Beſſeres kleckſen, unſer einziges<lb/>
Beſtreben ſoll ſein, ihm ein wenig nachzuſchaffen. Ich ver-<lb/>
lange in Allem — Leben, Möglichkeit des Daſeins, und<lb/>
dann iſt's gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es<lb/>ſchön, ob es häßlich iſt. Das Gefühl, daß Was geſchaffen<lb/>ſei, Leben habe, ſtehe über dieſen Beiden und ſei das einzige<lb/>
Kriterium in Kunſtſachen. Uebrigens begegne es uns nur<lb/>ſelten; in Shakſpeare finden wir es, und in den Volksliedern<lb/>
tönt es Einem ganz, in Goethe manchmal entgegen. Alles<lb/>
Uebrige kann man ins Feuer werfen. Die Leute können<lb/>
auch keinen Hundsſtall zeichnen. Da wollte man idealiſtiſche<lb/>
Geſtalten, aber Alles, was ich davon geſehen, ſind Holz-<lb/>
puppen. Dieſer Idealismus iſt die ſchmählichſte Verachtung<lb/>
der menſchlichen Natur. Man verſuche es einmal und ſenke<lb/>ſich in das Leben des Geringſten und gebe es wieder in<lb/>
den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[218/0414]
Oberlin wußte von Allem nichts; er hatte ihn aufgenommen,
gepflegt; er ſah es als eine Schickung Gottes, der den
Unglücklichen ihm zugeſandt hätte, er liebte ihn herzlich.
Auch war es Allen nothwendig, daß er da war, er gehörte
zu ihnen, als wäre er ſchon längſt da, und Niemand frug,
woher er gekommen und wohin er gehen werde. Ueber Tiſch
war Lenz wieder in guter Stimmung, man ſprach von
Literatur, er war auf ſeinem Gebiete; die idealiſtiſche Periode
fing damals an, Kaufmann war ein Anhänger davon, Lenz
widerſprach heftig. Er ſagte: Die Dichter, von denen man
ſage, ſie geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung
davon; doch ſeien ſie immer noch erträglicher, als die, welche
die Wirklichkeit verklären wollten. Er ſagte: Der liebe
Gott hat die Welt wohl gemacht, wie ſie ſein ſoll, und
wir können wohl nicht was Beſſeres kleckſen, unſer einziges
Beſtreben ſoll ſein, ihm ein wenig nachzuſchaffen. Ich ver-
lange in Allem — Leben, Möglichkeit des Daſeins, und
dann iſt's gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es
ſchön, ob es häßlich iſt. Das Gefühl, daß Was geſchaffen
ſei, Leben habe, ſtehe über dieſen Beiden und ſei das einzige
Kriterium in Kunſtſachen. Uebrigens begegne es uns nur
ſelten; in Shakſpeare finden wir es, und in den Volksliedern
tönt es Einem ganz, in Goethe manchmal entgegen. Alles
Uebrige kann man ins Feuer werfen. Die Leute können
auch keinen Hundsſtall zeichnen. Da wollte man idealiſtiſche
Geſtalten, aber Alles, was ich davon geſehen, ſind Holz-
puppen. Dieſer Idealismus iſt die ſchmählichſte Verachtung
der menſchlichen Natur. Man verſuche es einmal und ſenke
ſich in das Leben des Geringſten und gebe es wieder in
den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/414>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.