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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

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träumend, es verschmolz ihm Alles in eine Linie, wie eine
steigende und sinkende Welle, zwischen Himmel und Erde,
es war ihm als läge er an einem unendlichen Meer, das
leise auf und ab wogte. Manchmal saß er, dann ging er
wieder, aber langsam träumend. Er suchte keinen Weg.
Es war finster Abend, als er an eine bewohnte Hütte kam,
im Abhange nach dem Steinthal. Die Thüre war ver-
schlossen, er ging ans Fenster, durch das ein Lichtschimmer
fiel. Eine Lampe erhellte fast nur einen Punkt, ihr Licht
fiel auf das bleiche Gesicht eines Mädchens, das mit halb
geöffneten Augen, leise die Lippen bewegend, dahinter ruhte.
Weiter weg im Dunkel saß ein altes Weib, das mit schnar-
render Stimme aus einem Gesangbuche sang. Nach langem
Klopfen öffnete sie; sie war halb taub, sie trug Lenz einiges
Essen auf und wies ihm eine Schlafstelle an, wobei sie be-
ständig ihr Lied fortsang. Das Mädchen hatte sich nicht
gerührt. Einige Zeit darauf kam ein Mann herein, er war
lang und hager, Spuren von grauen Haaren, mit unruhigem
verwirrtem Gesicht. Er trat zum Mädchen, sie zuckte auf
und wurde unruhig. Er nahm ein getrocknetes Kraut von
der Wand und legte ihr die Blätter auf die Hand, so daß
sie ruhiger wurde und verständliche Worte in langsam ziehen-
den, durchschneidenden Tönen summte. Er erzählte, wie er
eine Stimme im Gebirge gehört und dann über den Thälern
ein Wetterleuchten gesehen habe, auch habe es ihn angefaßt,
und er habe damit gerungen wie Jakob. Er warf sich
nieder und betete leise mit Inbrunst, während die Kranke
in einem langsam ziehenden, leise verhallenden Tone sang.
Dann gab er sich zur Ruhe.

Lenz schlummerte träumend ein, und dann hörte er im

träumend, es verſchmolz ihm Alles in eine Linie, wie eine
ſteigende und ſinkende Welle, zwiſchen Himmel und Erde,
es war ihm als läge er an einem unendlichen Meer, das
leiſe auf und ab wogte. Manchmal ſaß er, dann ging er
wieder, aber langſam träumend. Er ſuchte keinen Weg.
Es war finſter Abend, als er an eine bewohnte Hütte kam,
im Abhange nach dem Steinthal. Die Thüre war ver-
ſchloſſen, er ging ans Fenſter, durch das ein Lichtſchimmer
fiel. Eine Lampe erhellte faſt nur einen Punkt, ihr Licht
fiel auf das bleiche Geſicht eines Mädchens, das mit halb
geöffneten Augen, leiſe die Lippen bewegend, dahinter ruhte.
Weiter weg im Dunkel ſaß ein altes Weib, das mit ſchnar-
render Stimme aus einem Geſangbuche ſang. Nach langem
Klopfen öffnete ſie; ſie war halb taub, ſie trug Lenz einiges
Eſſen auf und wies ihm eine Schlafſtelle an, wobei ſie be-
ſtändig ihr Lied fortſang. Das Mädchen hatte ſich nicht
gerührt. Einige Zeit darauf kam ein Mann herein, er war
lang und hager, Spuren von grauen Haaren, mit unruhigem
verwirrtem Geſicht. Er trat zum Mädchen, ſie zuckte auf
und wurde unruhig. Er nahm ein getrocknetes Kraut von
der Wand und legte ihr die Blätter auf die Hand, ſo daß
ſie ruhiger wurde und verſtändliche Worte in langſam ziehen-
den, durchſchneidenden Tönen ſummte. Er erzählte, wie er
eine Stimme im Gebirge gehört und dann über den Thälern
ein Wetterleuchten geſehen habe, auch habe es ihn angefaßt,
und er habe damit gerungen wie Jakob. Er warf ſich
nieder und betete leiſe mit Inbrunſt, während die Kranke
in einem langſam ziehenden, leiſe verhallenden Tone ſang.
Dann gab er ſich zur Ruhe.

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[223/0419] träumend, es verſchmolz ihm Alles in eine Linie, wie eine ſteigende und ſinkende Welle, zwiſchen Himmel und Erde, es war ihm als läge er an einem unendlichen Meer, das leiſe auf und ab wogte. Manchmal ſaß er, dann ging er wieder, aber langſam träumend. Er ſuchte keinen Weg. Es war finſter Abend, als er an eine bewohnte Hütte kam, im Abhange nach dem Steinthal. Die Thüre war ver- ſchloſſen, er ging ans Fenſter, durch das ein Lichtſchimmer fiel. Eine Lampe erhellte faſt nur einen Punkt, ihr Licht fiel auf das bleiche Geſicht eines Mädchens, das mit halb geöffneten Augen, leiſe die Lippen bewegend, dahinter ruhte. Weiter weg im Dunkel ſaß ein altes Weib, das mit ſchnar- render Stimme aus einem Geſangbuche ſang. Nach langem Klopfen öffnete ſie; ſie war halb taub, ſie trug Lenz einiges Eſſen auf und wies ihm eine Schlafſtelle an, wobei ſie be- ſtändig ihr Lied fortſang. Das Mädchen hatte ſich nicht gerührt. Einige Zeit darauf kam ein Mann herein, er war lang und hager, Spuren von grauen Haaren, mit unruhigem verwirrtem Geſicht. Er trat zum Mädchen, ſie zuckte auf und wurde unruhig. Er nahm ein getrocknetes Kraut von der Wand und legte ihr die Blätter auf die Hand, ſo daß ſie ruhiger wurde und verſtändliche Worte in langſam ziehen- den, durchſchneidenden Tönen ſummte. Er erzählte, wie er eine Stimme im Gebirge gehört und dann über den Thälern ein Wetterleuchten geſehen habe, auch habe es ihn angefaßt, und er habe damit gerungen wie Jakob. Er warf ſich nieder und betete leiſe mit Inbrunſt, während die Kranke in einem langſam ziehenden, leiſe verhallenden Tone ſang. Dann gab er ſich zur Ruhe. Lenz ſchlummerte träumend ein, und dann hörte er im

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Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/419>, abgerufen am 21.11.2024.