Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

zogen, das jüngste Kind zwischen den Knieen; auch machte
er sich viel mit dem Kinde zu schaffen. So saß er einmal,
da wurde ihm ängstlich, er sprang auf, ging auf und ab.
Die Thüre halb offen, da hörte er die Magd singen, erst
unverständlich, dann kamen die Worte:

Auf dieser Welt hab' ich kein' Freud',
Ich hab' mein Schatz, und der ist weit.

Das fiel auf ihn, er verging fast unter den Tönen.
Madame Oberlin sah ihn an. Er faßte sich ein Herz, er
konnte nicht mehr schweigen, er mußte davon sprechen. "Beste
Madame Oberlin, können Sie mir nicht sagen, was das
Frauenzimmer macht, dessen Schicksal mir so centnerschwer
auf dem Herzen liegt?" * -- "Aber Herr Lenz, ich weiß
von nichts". --

Er schwieg dann wieder und ging hastig im Zimmer
auf und ab; dann fing er wieder an: Sehen Sie, ich will
gehen; Gott, Sie sind noch die einzigen Menschen, wo ich's
aushalten könnte, und doch -- doch, ich muß weg, zu ihr
-- aber ich kann nicht, ich darf nicht. -- Er war heftig
bewegt und ging hinaus.

Gegen Abend kam Lenz wieder, es dämmerte in der
Stube; er setzte sich neben Madame Oberlin. "Sehen Sie",
fing er wieder an, "wenn sie so durchs Zimmer ging und
so halb für sich allein sang, und jeder Tritt war eine Musik,
es war so eine Glückseligkeit in ihr, und das strömte in
mich über, ich war immer ruhig, wenn ich sie ansah, oder
sie so den Kopf an mich lehnte, und Gott! Gott -- ich
war schon lange nicht mehr ruhig. ... Ganz Kind; es war,

* Friederike Biron, die Pfarrerstochter von Sesenheim,
Goethes Geliebte. K. E. F.

zogen, das jüngſte Kind zwiſchen den Knieen; auch machte
er ſich viel mit dem Kinde zu ſchaffen. So ſaß er einmal,
da wurde ihm ängſtlich, er ſprang auf, ging auf und ab.
Die Thüre halb offen, da hörte er die Magd ſingen, erſt
unverſtändlich, dann kamen die Worte:

Auf dieſer Welt hab' ich kein' Freud',
Ich hab' mein Schatz, und der iſt weit.

Das fiel auf ihn, er verging faſt unter den Tönen.
Madame Oberlin ſah ihn an. Er faßte ſich ein Herz, er
konnte nicht mehr ſchweigen, er mußte davon ſprechen. "Beſte
Madame Oberlin, können Sie mir nicht ſagen, was das
Frauenzimmer macht, deſſen Schickſal mir ſo centnerſchwer
auf dem Herzen liegt?" * — "Aber Herr Lenz, ich weiß
von nichts". —

Er ſchwieg dann wieder und ging haſtig im Zimmer
auf und ab; dann fing er wieder an: Sehen Sie, ich will
gehen; Gott, Sie ſind noch die einzigen Menſchen, wo ich's
aushalten könnte, und doch — doch, ich muß weg, zu ihr
— aber ich kann nicht, ich darf nicht. — Er war heftig
bewegt und ging hinaus.

Gegen Abend kam Lenz wieder, es dämmerte in der
Stube; er ſetzte ſich neben Madame Oberlin. "Sehen Sie",
fing er wieder an, "wenn ſie ſo durchs Zimmer ging und
ſo halb für ſich allein ſang, und jeder Tritt war eine Muſik,
es war ſo eine Glückſeligkeit in ihr, und das ſtrömte in
mich über, ich war immer ruhig, wenn ich ſie anſah, oder
ſie ſo den Kopf an mich lehnte, und Gott! Gott — ich
war ſchon lange nicht mehr ruhig. ... Ganz Kind; es war,

* Friederike Biron, die Pfarrerstochter von Seſenheim,
Goethes Geliebte. K. E. F.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0422" n="226"/>
zogen, das jüng&#x017F;te Kind zwi&#x017F;chen den Knieen; auch machte<lb/>
er &#x017F;ich viel mit dem Kinde zu &#x017F;chaffen. So &#x017F;aß er einmal,<lb/>
da wurde ihm äng&#x017F;tlich, er &#x017F;prang auf, ging auf und ab.<lb/>
Die Thüre halb offen, da hörte er die Magd &#x017F;ingen, er&#x017F;t<lb/>
unver&#x017F;tändlich, dann kamen die Worte:</p><lb/>
          <lg type="poem">
            <l>Auf die&#x017F;er Welt hab' ich kein' Freud',</l><lb/>
            <l>Ich hab' mein Schatz, und der i&#x017F;t weit.</l>
          </lg><lb/>
          <p>Das fiel auf ihn, er verging fa&#x017F;t unter den Tönen.<lb/>
Madame Oberlin &#x017F;ah ihn an. Er faßte &#x017F;ich ein Herz, er<lb/>
konnte nicht mehr &#x017F;chweigen, er mußte davon &#x017F;prechen. "Be&#x017F;te<lb/>
Madame Oberlin, können Sie mir nicht &#x017F;agen, was das<lb/>
Frauenzimmer macht, de&#x017F;&#x017F;en Schick&#x017F;al mir &#x017F;o centner&#x017F;chwer<lb/>
auf dem Herzen liegt?" <note place="foot" n="*">Friederike Biron, die Pfarrerstochter von Se&#x017F;enheim,<lb/>
Goethes Geliebte. <hi rendition="#fr"><hi rendition="#et">K. E. F.</hi></hi></note> &#x2014; "Aber Herr Lenz, ich weiß<lb/>
von nichts". &#x2014;</p><lb/>
          <p>Er &#x017F;chwieg dann wieder und ging ha&#x017F;tig im Zimmer<lb/>
auf und ab; dann fing er wieder an: Sehen Sie, ich will<lb/>
gehen; Gott, Sie &#x017F;ind noch die einzigen Men&#x017F;chen, wo ich's<lb/>
aushalten könnte, und doch &#x2014; doch, ich muß weg, zu <hi rendition="#g">ihr</hi><lb/>
&#x2014; aber ich kann nicht, ich darf nicht. &#x2014; Er war heftig<lb/>
bewegt und ging hinaus.</p><lb/>
          <p>Gegen Abend kam Lenz wieder, es dämmerte in der<lb/>
Stube; er &#x017F;etzte &#x017F;ich neben Madame Oberlin. "Sehen Sie",<lb/>
fing er wieder an, "wenn &#x017F;ie &#x017F;o durchs Zimmer ging und<lb/>
&#x017F;o halb für &#x017F;ich allein &#x017F;ang, und jeder Tritt war eine Mu&#x017F;ik,<lb/>
es war &#x017F;o eine Glück&#x017F;eligkeit in ihr, und das &#x017F;trömte in<lb/>
mich über, ich war immer ruhig, wenn ich &#x017F;ie an&#x017F;ah, oder<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;o den Kopf an mich lehnte, und Gott! Gott &#x2014; ich<lb/>
war &#x017F;chon lange nicht mehr ruhig. ... Ganz Kind; es war,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[226/0422] zogen, das jüngſte Kind zwiſchen den Knieen; auch machte er ſich viel mit dem Kinde zu ſchaffen. So ſaß er einmal, da wurde ihm ängſtlich, er ſprang auf, ging auf und ab. Die Thüre halb offen, da hörte er die Magd ſingen, erſt unverſtändlich, dann kamen die Worte: Auf dieſer Welt hab' ich kein' Freud', Ich hab' mein Schatz, und der iſt weit. Das fiel auf ihn, er verging faſt unter den Tönen. Madame Oberlin ſah ihn an. Er faßte ſich ein Herz, er konnte nicht mehr ſchweigen, er mußte davon ſprechen. "Beſte Madame Oberlin, können Sie mir nicht ſagen, was das Frauenzimmer macht, deſſen Schickſal mir ſo centnerſchwer auf dem Herzen liegt?" * — "Aber Herr Lenz, ich weiß von nichts". — Er ſchwieg dann wieder und ging haſtig im Zimmer auf und ab; dann fing er wieder an: Sehen Sie, ich will gehen; Gott, Sie ſind noch die einzigen Menſchen, wo ich's aushalten könnte, und doch — doch, ich muß weg, zu ihr — aber ich kann nicht, ich darf nicht. — Er war heftig bewegt und ging hinaus. Gegen Abend kam Lenz wieder, es dämmerte in der Stube; er ſetzte ſich neben Madame Oberlin. "Sehen Sie", fing er wieder an, "wenn ſie ſo durchs Zimmer ging und ſo halb für ſich allein ſang, und jeder Tritt war eine Muſik, es war ſo eine Glückſeligkeit in ihr, und das ſtrömte in mich über, ich war immer ruhig, wenn ich ſie anſah, oder ſie ſo den Kopf an mich lehnte, und Gott! Gott — ich war ſchon lange nicht mehr ruhig. ... Ganz Kind; es war, * Friederike Biron, die Pfarrerstochter von Seſenheim, Goethes Geliebte. K. E. F.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/422
Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/422>, abgerufen am 21.11.2024.