Die ersten gothischen Baumeister in Italien waren Deutsche. Es ist auffallend und beinahe unerklärlich, dass sie das aus dem Norden Mitgebrachte so rasch und völlig nach den südlichen Grundsätzen um- bilden konnten. Sie gaben gerade das Wesentliche, das Lebensprineip der nordischen Gothik Preis, nämlich die Ausbildung der Kirche zu einem Gerüst von lauter aufwärtsstrebenden, nach Entwicklung und Auflösung drängenden Kräften; dafür tauschten sie das Gefühl des Südens für Räume und Massen ein, welches die von ihnen gebildeten Italiener allerdings noch in weiterm Sinn an den Tag legten.
Ein einziges Gebäude macht, so viel mir bekannt ist, eine unbe- dingte Ausnahme: der Chorumgang von San Lorenzo in Neapel,a unter Carl von Anjou ohne Zweifel unter dem Einfluss eines mitge- brachten französischen Baumeisters 1) errichtet. Wer sich für einen Augenblick in den Norden versetzen will, wird in dieser hohen, schlan- ken Halle mit ihrem Capellenkranz sein Genüge finden; die Formen sind allerdings nicht von deutschgothischer Reinheit und der Chor selbst modernisirt. (Leider ebenso der hübsche Capitelsaal.) S. Do-b menico maggiore hat vom nordischen Styl wenigstens die enge Pfeilerstellung und die steilen Spitzbogen; S. Pietro a Majellac ebenso, doch für Italien minder auffallend; am Oberbau des Domesd (aussen am Querschiff etc.) macht sich das Festungsartige der fran- zösich-englischen Cathedralen geltend. An S. Giovanni maggioree ein stattliches Portal von noch beinahe französisch-gothischer Bildung. (An S. Chiara das Gothische theils nie ganz ausgebaut, theils bis ins Unkenntliche entstellt.)
Diesen vereinzelten französischen Einfluss abgerechnet hat überall das südliche Grundgefühl den Sieg behalten. Die gothischen Formen, losge- trennt von ihrer Wurzel, werden nur als ein decoratives Gewand über- geworfen; Spitzthürmchen, Giebel, Fensterstabwerk u. dgl. sind und bleiben in Italien nie etwas Anderes als Zierrath und Redensart, da ihnen die Basis fehlt, deren Resultat und Ausdruck sie sind, nämlich das nordische Verhältniss des Raumes zur Höhe und die strenge Ent- wicklung der Form nach oben. Der nothwendige Ausdruck des Weit-
1) Wenn auch Vasari einen Florentiner Maglione, Schüler des Nic. Pisano, als Baumeister nennt.
Kirchen von Neapel.
Die ersten gothischen Baumeister in Italien waren Deutsche. Es ist auffallend und beinahe unerklärlich, dass sie das aus dem Norden Mitgebrachte so rasch und völlig nach den südlichen Grundsätzen um- bilden konnten. Sie gaben gerade das Wesentliche, das Lebensprineip der nordischen Gothik Preis, nämlich die Ausbildung der Kirche zu einem Gerüst von lauter aufwärtsstrebenden, nach Entwicklung und Auflösung drängenden Kräften; dafür tauschten sie das Gefühl des Südens für Räume und Massen ein, welches die von ihnen gebildeten Italiener allerdings noch in weiterm Sinn an den Tag legten.
Ein einziges Gebäude macht, so viel mir bekannt ist, eine unbe- dingte Ausnahme: der Chorumgang von San Lorenzo in Neapel,a unter Carl von Anjou ohne Zweifel unter dem Einfluss eines mitge- brachten französischen Baumeisters 1) errichtet. Wer sich für einen Augenblick in den Norden versetzen will, wird in dieser hohen, schlan- ken Halle mit ihrem Capellenkranz sein Genüge finden; die Formen sind allerdings nicht von deutschgothischer Reinheit und der Chor selbst modernisirt. (Leider ebenso der hübsche Capitelsaal.) S. Do-b menico maggiore hat vom nordischen Styl wenigstens die enge Pfeilerstellung und die steilen Spitzbogen; S. Pietro a Majellac ebenso, doch für Italien minder auffallend; am Oberbau des Domesd (aussen am Querschiff etc.) macht sich das Festungsartige der fran- zösich-englischen Cathedralen geltend. An S. Giovanni maggioree ein stattliches Portal von noch beinahe französisch-gothischer Bildung. (An S. Chiara das Gothische theils nie ganz ausgebaut, theils bis ins Unkenntliche entstellt.)
Diesen vereinzelten französischen Einfluss abgerechnet hat überall das südliche Grundgefühl den Sieg behalten. Die gothischen Formen, losge- trennt von ihrer Wurzel, werden nur als ein decoratives Gewand über- geworfen; Spitzthürmchen, Giebel, Fensterstabwerk u. dgl. sind und bleiben in Italien nie etwas Anderes als Zierrath und Redensart, da ihnen die Basis fehlt, deren Resultat und Ausdruck sie sind, nämlich das nordische Verhältniss des Raumes zur Höhe und die strenge Ent- wicklung der Form nach oben. Der nothwendige Ausdruck des Weit-
1) Wenn auch Vasari einen Florentiner Maglione, Schüler des Nic. Pisano, als Baumeister nennt.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0147"n="125"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Kirchen von Neapel.</hi></fw><lb/><p>Die ersten gothischen Baumeister in Italien waren Deutsche. Es<lb/>
ist auffallend und beinahe unerklärlich, dass sie das aus dem Norden<lb/>
Mitgebrachte so rasch und völlig nach den südlichen Grundsätzen um-<lb/>
bilden konnten. Sie gaben gerade das Wesentliche, das Lebensprineip<lb/>
der nordischen Gothik Preis, nämlich die Ausbildung der Kirche zu<lb/>
einem Gerüst von lauter aufwärtsstrebenden, nach Entwicklung und<lb/>
Auflösung drängenden Kräften; dafür tauschten sie das Gefühl des<lb/>
Südens für Räume und Massen ein, welches die von ihnen gebildeten<lb/>
Italiener allerdings noch in weiterm Sinn an den Tag legten.</p><lb/><p>Ein einziges Gebäude macht, so viel mir bekannt ist, eine unbe-<lb/>
dingte Ausnahme: der Chorumgang von <hirendition="#g">San Lorenzo</hi> in <hirendition="#g">Neapel</hi>,<noteplace="right">a</note><lb/>
unter Carl von Anjou ohne Zweifel unter dem Einfluss eines mitge-<lb/>
brachten französischen Baumeisters <noteplace="foot"n="1)">Wenn auch Vasari einen Florentiner Maglione, Schüler des Nic. Pisano, als<lb/>
Baumeister nennt.</note> errichtet. Wer sich für einen<lb/>
Augenblick in den Norden versetzen will, wird in dieser hohen, schlan-<lb/>
ken Halle mit ihrem Capellenkranz sein Genüge finden; die Formen<lb/>
sind allerdings nicht von deutschgothischer Reinheit und der Chor<lb/>
selbst modernisirt. (Leider ebenso der hübsche Capitelsaal.) S. <hirendition="#g">Do-</hi><noteplace="right">b</note><lb/><hirendition="#g">menico maggiore</hi> hat vom nordischen Styl wenigstens die enge<lb/>
Pfeilerstellung und die steilen Spitzbogen; S. <hirendition="#g">Pietro a Majella</hi><noteplace="right">c</note><lb/>
ebenso, doch für Italien minder auffallend; am Oberbau des <hirendition="#g">Domes</hi><noteplace="right">d</note><lb/>
(aussen am Querschiff etc.) macht sich das Festungsartige der fran-<lb/>
zösich-englischen Cathedralen geltend. An S. <hirendition="#g">Giovanni maggiore</hi><noteplace="right">e</note><lb/>
ein stattliches Portal von noch beinahe französisch-gothischer Bildung.<lb/>
(An S. <hirendition="#g">Chiara</hi> das Gothische theils nie ganz ausgebaut, theils bis ins<lb/>
Unkenntliche entstellt.)</p><lb/><p>Diesen vereinzelten französischen Einfluss abgerechnet hat überall das<lb/>
südliche Grundgefühl den Sieg behalten. Die gothischen Formen, losge-<lb/>
trennt von ihrer Wurzel, werden nur als ein decoratives Gewand über-<lb/>
geworfen; Spitzthürmchen, Giebel, Fensterstabwerk u. dgl. sind und<lb/>
bleiben in Italien nie etwas Anderes als Zierrath und Redensart, da<lb/>
ihnen die Basis fehlt, deren Resultat und Ausdruck sie sind, nämlich<lb/>
das nordische Verhältniss des Raumes zur Höhe und die strenge Ent-<lb/>
wicklung der Form nach oben. Der nothwendige Ausdruck des Weit-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[125/0147]
Kirchen von Neapel.
Die ersten gothischen Baumeister in Italien waren Deutsche. Es
ist auffallend und beinahe unerklärlich, dass sie das aus dem Norden
Mitgebrachte so rasch und völlig nach den südlichen Grundsätzen um-
bilden konnten. Sie gaben gerade das Wesentliche, das Lebensprineip
der nordischen Gothik Preis, nämlich die Ausbildung der Kirche zu
einem Gerüst von lauter aufwärtsstrebenden, nach Entwicklung und
Auflösung drängenden Kräften; dafür tauschten sie das Gefühl des
Südens für Räume und Massen ein, welches die von ihnen gebildeten
Italiener allerdings noch in weiterm Sinn an den Tag legten.
Ein einziges Gebäude macht, so viel mir bekannt ist, eine unbe-
dingte Ausnahme: der Chorumgang von San Lorenzo in Neapel,
unter Carl von Anjou ohne Zweifel unter dem Einfluss eines mitge-
brachten französischen Baumeisters 1) errichtet. Wer sich für einen
Augenblick in den Norden versetzen will, wird in dieser hohen, schlan-
ken Halle mit ihrem Capellenkranz sein Genüge finden; die Formen
sind allerdings nicht von deutschgothischer Reinheit und der Chor
selbst modernisirt. (Leider ebenso der hübsche Capitelsaal.) S. Do-
menico maggiore hat vom nordischen Styl wenigstens die enge
Pfeilerstellung und die steilen Spitzbogen; S. Pietro a Majella
ebenso, doch für Italien minder auffallend; am Oberbau des Domes
(aussen am Querschiff etc.) macht sich das Festungsartige der fran-
zösich-englischen Cathedralen geltend. An S. Giovanni maggiore
ein stattliches Portal von noch beinahe französisch-gothischer Bildung.
(An S. Chiara das Gothische theils nie ganz ausgebaut, theils bis ins
Unkenntliche entstellt.)
a
b
c
d
e
Diesen vereinzelten französischen Einfluss abgerechnet hat überall das
südliche Grundgefühl den Sieg behalten. Die gothischen Formen, losge-
trennt von ihrer Wurzel, werden nur als ein decoratives Gewand über-
geworfen; Spitzthürmchen, Giebel, Fensterstabwerk u. dgl. sind und
bleiben in Italien nie etwas Anderes als Zierrath und Redensart, da
ihnen die Basis fehlt, deren Resultat und Ausdruck sie sind, nämlich
das nordische Verhältniss des Raumes zur Höhe und die strenge Ent-
wicklung der Form nach oben. Der nothwendige Ausdruck des Weit-
1) Wenn auch Vasari einen Florentiner Maglione, Schüler des Nic. Pisano, als
Baumeister nennt.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/147>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.