Die nächste Verwandtschaft mit dieser Cathedrale offenbart die aberühmte Dominicanerkirche S. Maria novella in Florenz, in ihrer jetzigen Gestalt begonnen 1278 unter Leitung der Mönche Fra Sisto und Fra Ristoro. Hier finden wir einen etwas anders gegliederten Pfeiler, bestehend aus vier Halbsäulen und vier Eckgliedern dazwi- schen, welche als Theile achtkantiger Pfeiler gedacht sind. Wiederum aber ist die durchsichtige, schlanke Weiträumigkeit offenbar das Haupt- ziel gewesen, das denn auch hier ohne alle Schlaudern und Veranke- rungen in hohem Grade erreicht worden ist. (Auch aussen treten die Strebepfeiler nur sehr wenig vor.) Hier zum erstenmal ist die mög- lichste Grösse der einzelnen Theile als leitendes Princip festgehalten; ein Gewölbe-Quadrat des Hauptschiffes entspricht nicht zweien des Nebenschiffes, wie im Norden, sondern einem Oblongum, und diese Anordnung bleibt bei allen italienischen Gewölbekirchen dieses Styles eine stehende. Über so wenigen so weit auseinanderstehenden Pfei- lern bedurfte und vertrug die Obermauer des Mittelschiffes, wie be- merkt, nur noch eine geringe Höhe. (Zu den Räthseln gehört hier die ungleiche Entfernung der Pfeiler von einander; die zwei hintersten, gegen das Querschiff hin, stehen am engsten, 35 Fuss im Lichten, die vordern Intervalle schwanken zwischen 44 und 46 Fuss. Eine Schein- verlängerung der Perspective war kaum der Zweck; die hintersten sind die ältesten.) Der links hinten stehende Thurm unterscheidet sich kaum von romanischen Thürmen; Eckstreifen, Bogenfriese und Bogen- fenster auf Säulchen 1). -- Die sog. Avelli an der Mauer neben der (spätern) Fassade sind als Collectivgrab des florentinischen Adels schön und einfach gedacht. -- Die Kreuzgänge und innern Räume des Klo- sters sind, gegen frühere italienische Klosterhöfe gehalten, ebenfalls weitbogig und weiträumig, und als malerischer Anblick von grossem Reiz. (Durchgängig, auch in den innern Räumen achteckige Säulen, theils schlanker, theils schwerer; die Bogen nähern sich meist dem sogenannten Stichbogen.)
b
Der Dom von Siena, unstreitig eines der schönsten gothischen
1) Bei diesem Anlass mag als artiges Curiosum das sechsseitige Thürmchen der *Abbadia in Florenz erwähnt werden. Es stammt aus dem XIV. Jahrhun- dert, und seine Bogenfriese sind spitzbogig.
Gothische Architektur. S. Maria novella.
Die nächste Verwandtschaft mit dieser Cathedrale offenbart die aberühmte Dominicanerkirche S. Maria novella in Florenz, in ihrer jetzigen Gestalt begonnen 1278 unter Leitung der Mönche Fra Sisto und Fra Ristoro. Hier finden wir einen etwas anders gegliederten Pfeiler, bestehend aus vier Halbsäulen und vier Eckgliedern dazwi- schen, welche als Theile achtkantiger Pfeiler gedacht sind. Wiederum aber ist die durchsichtige, schlanke Weiträumigkeit offenbar das Haupt- ziel gewesen, das denn auch hier ohne alle Schlaudern und Veranke- rungen in hohem Grade erreicht worden ist. (Auch aussen treten die Strebepfeiler nur sehr wenig vor.) Hier zum erstenmal ist die mög- lichste Grösse der einzelnen Theile als leitendes Princip festgehalten; ein Gewölbe-Quadrat des Hauptschiffes entspricht nicht zweien des Nebenschiffes, wie im Norden, sondern einem Oblongum, und diese Anordnung bleibt bei allen italienischen Gewölbekirchen dieses Styles eine stehende. Über so wenigen so weit auseinanderstehenden Pfei- lern bedurfte und vertrug die Obermauer des Mittelschiffes, wie be- merkt, nur noch eine geringe Höhe. (Zu den Räthseln gehört hier die ungleiche Entfernung der Pfeiler von einander; die zwei hintersten, gegen das Querschiff hin, stehen am engsten, 35 Fuss im Lichten, die vordern Intervalle schwanken zwischen 44 und 46 Fuss. Eine Schein- verlängerung der Perspective war kaum der Zweck; die hintersten sind die ältesten.) Der links hinten stehende Thurm unterscheidet sich kaum von romanischen Thürmen; Eckstreifen, Bogenfriese und Bogen- fenster auf Säulchen 1). — Die sog. Avelli an der Mauer neben der (spätern) Fassade sind als Collectivgrab des florentinischen Adels schön und einfach gedacht. — Die Kreuzgänge und innern Räume des Klo- sters sind, gegen frühere italienische Klosterhöfe gehalten, ebenfalls weitbogig und weiträumig, und als malerischer Anblick von grossem Reiz. (Durchgängig, auch in den innern Räumen achteckige Säulen, theils schlanker, theils schwerer; die Bogen nähern sich meist dem sogenannten Stichbogen.)
b
Der Dom von Siena, unstreitig eines der schönsten gothischen
1) Bei diesem Anlass mag als artiges Curiosum das sechsseitige Thürmchen der *Abbadia in Florenz erwähnt werden. Es stammt aus dem XIV. Jahrhun- dert, und seine Bogenfriese sind spitzbogig.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0154"n="132"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Gothische Architektur. S. Maria novella.</hi></fw><lb/><p>Die nächste Verwandtschaft mit dieser Cathedrale offenbart die<lb/><noteplace="left">a</note>berühmte Dominicanerkirche S. <hirendition="#g">Maria novella</hi> in <hirendition="#g">Florenz</hi>, in ihrer<lb/>
jetzigen Gestalt begonnen 1278 unter Leitung der Mönche Fra Sisto<lb/>
und Fra Ristoro. Hier finden wir einen etwas anders gegliederten<lb/>
Pfeiler, bestehend aus vier Halbsäulen und vier Eckgliedern dazwi-<lb/>
schen, welche als Theile achtkantiger Pfeiler gedacht sind. Wiederum<lb/>
aber ist die durchsichtige, schlanke Weiträumigkeit offenbar das Haupt-<lb/>
ziel gewesen, das denn auch hier ohne alle Schlaudern und Veranke-<lb/>
rungen in hohem Grade erreicht worden ist. (Auch aussen treten die<lb/>
Strebepfeiler nur sehr wenig vor.) Hier zum erstenmal ist die mög-<lb/>
lichste Grösse der einzelnen Theile als leitendes Princip festgehalten;<lb/>
ein Gewölbe-Quadrat des Hauptschiffes entspricht nicht zweien des<lb/>
Nebenschiffes, wie im Norden, sondern einem Oblongum, und diese<lb/>
Anordnung bleibt bei allen italienischen Gewölbekirchen dieses Styles<lb/>
eine stehende. Über so wenigen so weit auseinanderstehenden Pfei-<lb/>
lern bedurfte und vertrug die Obermauer des Mittelschiffes, wie be-<lb/>
merkt, nur noch eine geringe Höhe. (Zu den Räthseln gehört hier die<lb/>
ungleiche Entfernung der Pfeiler von einander; die zwei hintersten,<lb/>
gegen das Querschiff hin, stehen am engsten, 35 Fuss im Lichten, die<lb/>
vordern Intervalle schwanken zwischen 44 und 46 Fuss. Eine Schein-<lb/>
verlängerung der Perspective war kaum der Zweck; die hintersten<lb/>
sind die ältesten.) Der links hinten stehende Thurm unterscheidet sich<lb/>
kaum von romanischen Thürmen; Eckstreifen, Bogenfriese und Bogen-<lb/>
fenster auf Säulchen <noteplace="foot"n="1)">Bei diesem Anlass mag als artiges Curiosum das sechsseitige Thürmchen der<lb/><noteplace="left">*</note>Abbadia in Florenz erwähnt werden. Es stammt aus dem XIV. Jahrhun-<lb/>
dert, und seine Bogenfriese sind spitzbogig.</note>. — Die sog. Avelli an der Mauer neben der<lb/>
(spätern) Fassade sind als Collectivgrab des florentinischen Adels schön<lb/>
und einfach gedacht. — Die Kreuzgänge und innern Räume des Klo-<lb/>
sters sind, gegen frühere italienische Klosterhöfe gehalten, ebenfalls<lb/>
weitbogig und weiträumig, und als malerischer Anblick von grossem<lb/>
Reiz. (Durchgängig, auch in den innern Räumen achteckige Säulen,<lb/>
theils schlanker, theils schwerer; die Bogen nähern sich meist dem<lb/>
sogenannten Stichbogen.)</p><lb/><noteplace="left">b</note><p>Der <hirendition="#g">Dom</hi> von <hirendition="#g">Siena</hi>, unstreitig eines der schönsten gothischen<lb/></p></div></body></text></TEI>
[132/0154]
Gothische Architektur. S. Maria novella.
Die nächste Verwandtschaft mit dieser Cathedrale offenbart die
berühmte Dominicanerkirche S. Maria novella in Florenz, in ihrer
jetzigen Gestalt begonnen 1278 unter Leitung der Mönche Fra Sisto
und Fra Ristoro. Hier finden wir einen etwas anders gegliederten
Pfeiler, bestehend aus vier Halbsäulen und vier Eckgliedern dazwi-
schen, welche als Theile achtkantiger Pfeiler gedacht sind. Wiederum
aber ist die durchsichtige, schlanke Weiträumigkeit offenbar das Haupt-
ziel gewesen, das denn auch hier ohne alle Schlaudern und Veranke-
rungen in hohem Grade erreicht worden ist. (Auch aussen treten die
Strebepfeiler nur sehr wenig vor.) Hier zum erstenmal ist die mög-
lichste Grösse der einzelnen Theile als leitendes Princip festgehalten;
ein Gewölbe-Quadrat des Hauptschiffes entspricht nicht zweien des
Nebenschiffes, wie im Norden, sondern einem Oblongum, und diese
Anordnung bleibt bei allen italienischen Gewölbekirchen dieses Styles
eine stehende. Über so wenigen so weit auseinanderstehenden Pfei-
lern bedurfte und vertrug die Obermauer des Mittelschiffes, wie be-
merkt, nur noch eine geringe Höhe. (Zu den Räthseln gehört hier die
ungleiche Entfernung der Pfeiler von einander; die zwei hintersten,
gegen das Querschiff hin, stehen am engsten, 35 Fuss im Lichten, die
vordern Intervalle schwanken zwischen 44 und 46 Fuss. Eine Schein-
verlängerung der Perspective war kaum der Zweck; die hintersten
sind die ältesten.) Der links hinten stehende Thurm unterscheidet sich
kaum von romanischen Thürmen; Eckstreifen, Bogenfriese und Bogen-
fenster auf Säulchen 1). — Die sog. Avelli an der Mauer neben der
(spätern) Fassade sind als Collectivgrab des florentinischen Adels schön
und einfach gedacht. — Die Kreuzgänge und innern Räume des Klo-
sters sind, gegen frühere italienische Klosterhöfe gehalten, ebenfalls
weitbogig und weiträumig, und als malerischer Anblick von grossem
Reiz. (Durchgängig, auch in den innern Räumen achteckige Säulen,
theils schlanker, theils schwerer; die Bogen nähern sich meist dem
sogenannten Stichbogen.)
a
Der Dom von Siena, unstreitig eines der schönsten gothischen
1) Bei diesem Anlass mag als artiges Curiosum das sechsseitige Thürmchen der
Abbadia in Florenz erwähnt werden. Es stammt aus dem XIV. Jahrhun-
dert, und seine Bogenfriese sind spitzbogig.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/154>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.