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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Renaissance-Decoration in Holz.
monie des gothischen Gesammtbaues stören musste, so reich und pracht-
voll als möglich zu gestalten; gleichsam zur Entschuldigung und zum
Ersatz für den unterbrochenen Rhythmus des Ganzen. Daher wirken
noch so manche Wendeltreppen, Lettner, Balustraden etc. im Innern
der Kirchen als Prachtstücke ersten Ranges; namentlich aber wurde
das Stuhlwerk im Innern des Chores mit stets neuem Raffinement
in den reichsten gothischen Zierformen und mit einem oft werthvollen
figürlichen Schmuck ausgearbeitet. Italien besitzt nun zwar aus seiner
gothischen Kunstperiode keine Chorstühle wie die des Ulmer Mün-
asters; diejenigen der Oberkirche von S. Francesco zu Assisi würden
z. B. in Deutschland geringe Figur machen; ebenso die ältern Theile
derjenigen im Dom von Siena, das Stuhlwerk in S. Agostino zu Lucca,
in S. Domenico zu Ferrara (1384), in den Servi zu Bologna (1390),
bin S. Zeno zu Verona, selbst dasjenige im Dom von Reggio. (Am
cehesten behaupten noch die Chorstühle im Dom von Orvieto einen
unabhängigen Werth, weniger wegen des Architektonischen, als wegen
der eingelegten Ornamente und Halbfiguren des Pietro di Minella aus
Siena um 1400). -- Allein zur Zeit der Renaissance warf sich die
Decoration mit einem Eifer gerade auf diese Gattung, welcher das
Versäumte gewissermassen nachholte. Das Stuhlwerk und die Lese-
pulte in einzelnen Kirchen und Capellen, auch wohl in weltlichen Ge-
bäuden, sowie die Orgellettner und die Wandschränke in den Sacri-
steien aus dieser Zeit, erreichen das Mögliche innerhalb der Grenzen
dieser Gattung und einzelne davon werden auf immer als classische
Muster dienen. Alle Luxusschreinerei unserer Tage pflegt dieselben --
zugestandener Massen oder nicht -- wenigstens theilweise nachzuah-
men, wie der Blick auf die beliebtesten Prachtmöbel der Ausstellung
von London beweist. Nur findet sie nicht immer nöthig, diesen Vor-
bildern ausser dem Detail auch das Princip abzusehen, welches mit
so grosser Sicherheit das Architektonische und das Decorative zu schei-
den und zu verbinden wusste.

Als Nebengattung der Architektur richtet sich diese Holzschnitzerei
natürlich nach den persönlichen und Schuleinflüssen derselben: den-
noch stellen wir hier der Übersicht zu Liebe die wichtigern Werke
der ganzen Gattung nach den wenigen Städten zusammen, welche der
Verfasser daraufhin hat durchforschen können. -- Sie besteht, wenn

Renaissance-Decoration in Holz.
monie des gothischen Gesammtbaues stören musste, so reich und pracht-
voll als möglich zu gestalten; gleichsam zur Entschuldigung und zum
Ersatz für den unterbrochenen Rhythmus des Ganzen. Daher wirken
noch so manche Wendeltreppen, Lettner, Balustraden etc. im Innern
der Kirchen als Prachtstücke ersten Ranges; namentlich aber wurde
das Stuhlwerk im Innern des Chores mit stets neuem Raffinement
in den reichsten gothischen Zierformen und mit einem oft werthvollen
figürlichen Schmuck ausgearbeitet. Italien besitzt nun zwar aus seiner
gothischen Kunstperiode keine Chorstühle wie die des Ulmer Mün-
asters; diejenigen der Oberkirche von S. Francesco zu Assisi würden
z. B. in Deutschland geringe Figur machen; ebenso die ältern Theile
derjenigen im Dom von Siena, das Stuhlwerk in S. Agostino zu Lucca,
in S. Domenico zu Ferrara (1384), in den Servi zu Bologna (1390),
bin S. Zeno zu Verona, selbst dasjenige im Dom von Reggio. (Am
cehesten behaupten noch die Chorstühle im Dom von Orvieto einen
unabhängigen Werth, weniger wegen des Architektonischen, als wegen
der eingelegten Ornamente und Halbfiguren des Pietro di Minella aus
Siena um 1400). — Allein zur Zeit der Renaissance warf sich die
Decoration mit einem Eifer gerade auf diese Gattung, welcher das
Versäumte gewissermassen nachholte. Das Stuhlwerk und die Lese-
pulte in einzelnen Kirchen und Capellen, auch wohl in weltlichen Ge-
bäuden, sowie die Orgellettner und die Wandschränke in den Sacri-
steien aus dieser Zeit, erreichen das Mögliche innerhalb der Grenzen
dieser Gattung und einzelne davon werden auf immer als classische
Muster dienen. Alle Luxusschreinerei unserer Tage pflegt dieselben —
zugestandener Massen oder nicht — wenigstens theilweise nachzuah-
men, wie der Blick auf die beliebtesten Prachtmöbel der Ausstellung
von London beweist. Nur findet sie nicht immer nöthig, diesen Vor-
bildern ausser dem Detail auch das Princip abzusehen, welches mit
so grosser Sicherheit das Architektonische und das Decorative zu schei-
den und zu verbinden wusste.

Als Nebengattung der Architektur richtet sich diese Holzschnitzerei
natürlich nach den persönlichen und Schuleinflüssen derselben: den-
noch stellen wir hier der Übersicht zu Liebe die wichtigern Werke
der ganzen Gattung nach den wenigen Städten zusammen, welche der
Verfasser daraufhin hat durchforschen können. — Sie besteht, wenn

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[258/0280] Renaissance-Decoration in Holz. monie des gothischen Gesammtbaues stören musste, so reich und pracht- voll als möglich zu gestalten; gleichsam zur Entschuldigung und zum Ersatz für den unterbrochenen Rhythmus des Ganzen. Daher wirken noch so manche Wendeltreppen, Lettner, Balustraden etc. im Innern der Kirchen als Prachtstücke ersten Ranges; namentlich aber wurde das Stuhlwerk im Innern des Chores mit stets neuem Raffinement in den reichsten gothischen Zierformen und mit einem oft werthvollen figürlichen Schmuck ausgearbeitet. Italien besitzt nun zwar aus seiner gothischen Kunstperiode keine Chorstühle wie die des Ulmer Mün- sters; diejenigen der Oberkirche von S. Francesco zu Assisi würden z. B. in Deutschland geringe Figur machen; ebenso die ältern Theile derjenigen im Dom von Siena, das Stuhlwerk in S. Agostino zu Lucca, in S. Domenico zu Ferrara (1384), in den Servi zu Bologna (1390), in S. Zeno zu Verona, selbst dasjenige im Dom von Reggio. (Am ehesten behaupten noch die Chorstühle im Dom von Orvieto einen unabhängigen Werth, weniger wegen des Architektonischen, als wegen der eingelegten Ornamente und Halbfiguren des Pietro di Minella aus Siena um 1400). — Allein zur Zeit der Renaissance warf sich die Decoration mit einem Eifer gerade auf diese Gattung, welcher das Versäumte gewissermassen nachholte. Das Stuhlwerk und die Lese- pulte in einzelnen Kirchen und Capellen, auch wohl in weltlichen Ge- bäuden, sowie die Orgellettner und die Wandschränke in den Sacri- steien aus dieser Zeit, erreichen das Mögliche innerhalb der Grenzen dieser Gattung und einzelne davon werden auf immer als classische Muster dienen. Alle Luxusschreinerei unserer Tage pflegt dieselben — zugestandener Massen oder nicht — wenigstens theilweise nachzuah- men, wie der Blick auf die beliebtesten Prachtmöbel der Ausstellung von London beweist. Nur findet sie nicht immer nöthig, diesen Vor- bildern ausser dem Detail auch das Princip abzusehen, welches mit so grosser Sicherheit das Architektonische und das Decorative zu schei- den und zu verbinden wusste. a b c Als Nebengattung der Architektur richtet sich diese Holzschnitzerei natürlich nach den persönlichen und Schuleinflüssen derselben: den- noch stellen wir hier der Übersicht zu Liebe die wichtigern Werke der ganzen Gattung nach den wenigen Städten zusammen, welche der Verfasser daraufhin hat durchforschen können. — Sie besteht, wenn

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/280>, abgerufen am 05.12.2024.