Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite
Antike Sculptur. Demeter.

Die eigentliche Matrone unter den Göttinnen, die mütterliche in
vorzugsweisem Sinne war einst Demeter. Die frühere Kunst gab
ihr daher, neben dem Jugendlichen, was allen Göttinnen eigen ist,
zwar nicht die königliche Würde der Hera, aber doch eine hohe Gra-
vität, einen gewaltigen Gliederbau und eine völlige Bekleidung (selbst
bisweilen einen Schleier). So finden wir sie in der grandiosen (in
aden Attributen ergänzten) Colossalstatue des Vaticans (Sala rotonda)
dargestellt; ihre Stellung ist die so mancher Statuen des ältern Typus:
mächtiges Vortreten des einen Fusses (auf welchem der Körper ruht),
Nachziehen des andern, also beinahe ein Vorschreiten, wie es insbe-
sondere der wandernden Göttin geziemt, die ihre verlorene Tochter
sucht.

Ein späterer Typus zeigt die Göttin ohne das Matronenhafte,
vielmehr mit dem süssesten Reiz eines schlank zu nennenden jungen
Weibes angethan. Nur die Ähren in der Hand deuten an, um wen
bes sich handelt. Dieser Art ist die Statue der Villa Borghese
(Zimmer der Juno). Ganz ungesucht und mühelos scheint hier der
Bildhauer das herrlichste denkbare Gewandmotiv als Ausdruck des
edelsten Leibes, und die stille, sinnende Schönheit eines Kopfes
erreicht zu haben, der zwischen Aphrodite und den Musen die
Mitte hält.

c

An diese Statue erinnert eine schöne, als Flora restaurirte Ge-
wandfigur im Vatican (Galeria delle Statue), die ihr jedoch nicht
gleich kömmt. Dagegen könnte die als Hygiea restaurirte Statue im
dDogenpalast zu Venedig (Sala de' Busti) eher eine Demeter jenes äl-
tern Typus gewesen sein.


Zu den reichen, vollen, mütterlichen Bildungen gehört auch Isis,
die schon zur griechischen Zeit aus dem ägyptischen Götterkreis in
die classische Kunst hereinkam. Fast junonisch herrlich erscheint sie
euns in dem prächtigen Colossalkopf der Villa Borghese (Hauptsaal);
fmehr jungfräulich in einem reizenden Köpfchen des Vaticans (Büsten-
zimmer; statt des Lotos ein Lockenbund über der Stirn). Die voll-
ständigen Statuen werden bald für die Göttin selbst, bald für eine
blosse Priesterin ausgegeben; ein Zweifel, welcher desshalb unlösbar

Antike Sculptur. Demeter.

Die eigentliche Matrone unter den Göttinnen, die mütterliche in
vorzugsweisem Sinne war einst Demeter. Die frühere Kunst gab
ihr daher, neben dem Jugendlichen, was allen Göttinnen eigen ist,
zwar nicht die königliche Würde der Hera, aber doch eine hohe Gra-
vität, einen gewaltigen Gliederbau und eine völlige Bekleidung (selbst
bisweilen einen Schleier). So finden wir sie in der grandiosen (in
aden Attributen ergänzten) Colossalstatue des Vaticans (Sala rotonda)
dargestellt; ihre Stellung ist die so mancher Statuen des ältern Typus:
mächtiges Vortreten des einen Fusses (auf welchem der Körper ruht),
Nachziehen des andern, also beinahe ein Vorschreiten, wie es insbe-
sondere der wandernden Göttin geziemt, die ihre verlorene Tochter
sucht.

Ein späterer Typus zeigt die Göttin ohne das Matronenhafte,
vielmehr mit dem süssesten Reiz eines schlank zu nennenden jungen
Weibes angethan. Nur die Ähren in der Hand deuten an, um wen
bes sich handelt. Dieser Art ist die Statue der Villa Borghese
(Zimmer der Juno). Ganz ungesucht und mühelos scheint hier der
Bildhauer das herrlichste denkbare Gewandmotiv als Ausdruck des
edelsten Leibes, und die stille, sinnende Schönheit eines Kopfes
erreicht zu haben, der zwischen Aphrodite und den Musen die
Mitte hält.

c

An diese Statue erinnert eine schöne, als Flora restaurirte Ge-
wandfigur im Vatican (Galeria delle Statue), die ihr jedoch nicht
gleich kömmt. Dagegen könnte die als Hygiea restaurirte Statue im
dDogenpalast zu Venedig (Sala de’ Busti) eher eine Demeter jenes äl-
tern Typus gewesen sein.


Zu den reichen, vollen, mütterlichen Bildungen gehört auch Isis,
die schon zur griechischen Zeit aus dem ägyptischen Götterkreis in
die classische Kunst hereinkam. Fast junonisch herrlich erscheint sie
euns in dem prächtigen Colossalkopf der Villa Borghese (Hauptsaal);
fmehr jungfräulich in einem reizenden Köpfchen des Vaticans (Büsten-
zimmer; statt des Lotos ein Lockenbund über der Stirn). Die voll-
ständigen Statuen werden bald für die Göttin selbst, bald für eine
blosse Priesterin ausgegeben; ein Zweifel, welcher desshalb unlösbar

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0450" n="428"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Antike Sculptur. Demeter.</hi> </fw><lb/>
        <p>Die eigentliche Matrone unter den Göttinnen, die mütterliche in<lb/>
vorzugsweisem Sinne war einst <hi rendition="#g">Demeter</hi>. Die frühere Kunst gab<lb/>
ihr daher, neben dem Jugendlichen, was allen Göttinnen eigen ist,<lb/>
zwar nicht die königliche Würde der Hera, aber doch eine hohe Gra-<lb/>
vität, einen gewaltigen Gliederbau und eine völlige Bekleidung (selbst<lb/>
bisweilen einen Schleier). So finden wir sie in der grandiosen (in<lb/><note place="left">a</note>den Attributen ergänzten) Colossalstatue des Vaticans (Sala rotonda)<lb/>
dargestellt; ihre Stellung ist die so mancher Statuen des ältern Typus:<lb/>
mächtiges Vortreten des einen Fusses (auf welchem der Körper ruht),<lb/>
Nachziehen des andern, also beinahe ein Vorschreiten, wie es insbe-<lb/>
sondere der wandernden Göttin geziemt, die ihre verlorene Tochter<lb/>
sucht.</p><lb/>
        <p>Ein späterer Typus zeigt die Göttin ohne das Matronenhafte,<lb/>
vielmehr mit dem süssesten Reiz eines schlank zu nennenden jungen<lb/>
Weibes angethan. Nur die Ähren in der Hand deuten an, um wen<lb/><note place="left">b</note>es sich handelt. Dieser Art ist die Statue der <hi rendition="#g">Villa Borghese</hi><lb/>
(Zimmer der Juno). Ganz ungesucht und mühelos scheint hier der<lb/>
Bildhauer das herrlichste denkbare Gewandmotiv als Ausdruck des<lb/>
edelsten Leibes, und die stille, sinnende Schönheit eines Kopfes<lb/>
erreicht zu haben, der zwischen Aphrodite und den Musen die<lb/>
Mitte hält.</p><lb/>
        <note place="left">c</note>
        <p>An diese Statue erinnert eine schöne, als Flora restaurirte Ge-<lb/>
wandfigur im Vatican (Galeria delle Statue), die ihr jedoch nicht<lb/>
gleich kömmt. Dagegen könnte die als Hygiea restaurirte Statue im<lb/><note place="left">d</note>Dogenpalast zu Venedig (Sala de&#x2019; Busti) eher eine Demeter jenes äl-<lb/>
tern Typus gewesen sein.</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Zu den reichen, vollen, mütterlichen Bildungen gehört auch <hi rendition="#g">Isis</hi>,<lb/>
die schon zur griechischen Zeit aus dem ägyptischen Götterkreis in<lb/>
die classische Kunst hereinkam. Fast junonisch herrlich erscheint sie<lb/><note place="left">e</note>uns in dem prächtigen Colossalkopf der Villa Borghese (Hauptsaal);<lb/><note place="left">f</note>mehr jungfräulich in einem reizenden Köpfchen des Vaticans (Büsten-<lb/>
zimmer; statt des Lotos ein Lockenbund über der Stirn). Die voll-<lb/>
ständigen Statuen werden bald für die Göttin selbst, bald für eine<lb/>
blosse Priesterin ausgegeben; ein Zweifel, welcher desshalb unlösbar<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[428/0450] Antike Sculptur. Demeter. Die eigentliche Matrone unter den Göttinnen, die mütterliche in vorzugsweisem Sinne war einst Demeter. Die frühere Kunst gab ihr daher, neben dem Jugendlichen, was allen Göttinnen eigen ist, zwar nicht die königliche Würde der Hera, aber doch eine hohe Gra- vität, einen gewaltigen Gliederbau und eine völlige Bekleidung (selbst bisweilen einen Schleier). So finden wir sie in der grandiosen (in den Attributen ergänzten) Colossalstatue des Vaticans (Sala rotonda) dargestellt; ihre Stellung ist die so mancher Statuen des ältern Typus: mächtiges Vortreten des einen Fusses (auf welchem der Körper ruht), Nachziehen des andern, also beinahe ein Vorschreiten, wie es insbe- sondere der wandernden Göttin geziemt, die ihre verlorene Tochter sucht. a Ein späterer Typus zeigt die Göttin ohne das Matronenhafte, vielmehr mit dem süssesten Reiz eines schlank zu nennenden jungen Weibes angethan. Nur die Ähren in der Hand deuten an, um wen es sich handelt. Dieser Art ist die Statue der Villa Borghese (Zimmer der Juno). Ganz ungesucht und mühelos scheint hier der Bildhauer das herrlichste denkbare Gewandmotiv als Ausdruck des edelsten Leibes, und die stille, sinnende Schönheit eines Kopfes erreicht zu haben, der zwischen Aphrodite und den Musen die Mitte hält. b An diese Statue erinnert eine schöne, als Flora restaurirte Ge- wandfigur im Vatican (Galeria delle Statue), die ihr jedoch nicht gleich kömmt. Dagegen könnte die als Hygiea restaurirte Statue im Dogenpalast zu Venedig (Sala de’ Busti) eher eine Demeter jenes äl- tern Typus gewesen sein. d Zu den reichen, vollen, mütterlichen Bildungen gehört auch Isis, die schon zur griechischen Zeit aus dem ägyptischen Götterkreis in die classische Kunst hereinkam. Fast junonisch herrlich erscheint sie uns in dem prächtigen Colossalkopf der Villa Borghese (Hauptsaal); mehr jungfräulich in einem reizenden Köpfchen des Vaticans (Büsten- zimmer; statt des Lotos ein Lockenbund über der Stirn). Die voll- ständigen Statuen werden bald für die Göttin selbst, bald für eine blosse Priesterin ausgegeben; ein Zweifel, welcher desshalb unlösbar e f

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/450
Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 428. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/450>, abgerufen am 05.12.2024.