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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Antike Sculptur. Weibliche Gewandstatuen.
men von Gewandstatuen zusammen gefasst werden. Für eine
kritische Aufzählung (worauf hier kein Anspruch gemacht wird) wäre
es unerlässlich, zu ermitteln, welchen göttlichen oder menschlichen
Gestalten die verschiedenen Gewandungstypen zukamen. Die Schwie-
rigkeit einer solchen Forschung leuchtet ein, wenn man erwägt, dass
weit die meisten dieser Statuen gefunden wurden ohne Hände und
Attribute, auch kopflos oder mit solchen Köpfen, die ihnen schon
im Alterthum willkürlich gegeben worden waren: dass endlich schon
das Alterthum häufig vorhandene Göttertypen zu Porträtbildungen
benützte. So viel ist immerhin gewiss, dass eine Anzahl von Motiven
der Stellung und Gewandung, hauptsächlich aus der spätern Zeit der
griechischen Kunst, ein canonisches Ansehen genossen und um ihrer
Schönheit willen beständig wiederholt wurden. Hauptsächlich ge-
währte der Chor der Musen, in den verschiedenen Auffassungen, die
wir nachweisen können, einen Vorrath der schönsten Vorbilder für
die Drapirung von Bildnissfiguren, sodass beim einzelnen Torso schwer
zu entscheiden sein wird, ob er für eine Musenstatue oder für ein
als Muse stylisirtes Bildniss gearbeitet worden. Ausserdem sind unter
der Masse der "Gewandstatuen" Stellungs- und Drapirungs-Motive
von Göttinnen, symbolischen Personificationen, Priesterinnen, Theil-
nehmerinnen an Festzügen, selbst eigentlichen Genrefiguren begriffen;
manche Motive gehören auch ganz ursprünglich der porträtirenden
Kunst an und geben ideal aufgefasste griechische und römische Trach-
ten wieder. -- Wenn aus dem ganzen Alterthum keine andern Kunst-
werke erhalten wären, so würden schon diese Gewandtorsen (selbst
die gering ausgeführten nach guten Motiven) uns den höchsten Be-
griff von der alten Kunst geben. Es ist keine ruhig-grossartige und
keine einfach-liebliche Stellung des beseelten Weibes, welche hier nicht
in und mit einer theils prächtigen, theils schlichten Gewandung aus-
gesprochen wäre. Haltung und Gewandung wären beide für sich
schön, aber es ist der hohe Vorzug der antiken Kunst, dass sie ganz
untrennbar zusammengedacht sind und nur mit einander existiren.

Zu den reichsten Motiven gehört das schon bei den Musen vor-
kommende, auf verschiedene Attituden angewandte: theilweise Auf-
hebung des Gegensatzes zwischen Ober- und Untergewand, vermöge
Durchscheinens des letztern durch das erstere. Weit entfernt von der

Antike Sculptur. Weibliche Gewandstatuen.
men von Gewandstatuen zusammen gefasst werden. Für eine
kritische Aufzählung (worauf hier kein Anspruch gemacht wird) wäre
es unerlässlich, zu ermitteln, welchen göttlichen oder menschlichen
Gestalten die verschiedenen Gewandungstypen zukamen. Die Schwie-
rigkeit einer solchen Forschung leuchtet ein, wenn man erwägt, dass
weit die meisten dieser Statuen gefunden wurden ohne Hände und
Attribute, auch kopflos oder mit solchen Köpfen, die ihnen schon
im Alterthum willkürlich gegeben worden waren: dass endlich schon
das Alterthum häufig vorhandene Göttertypen zu Porträtbildungen
benützte. So viel ist immerhin gewiss, dass eine Anzahl von Motiven
der Stellung und Gewandung, hauptsächlich aus der spätern Zeit der
griechischen Kunst, ein canonisches Ansehen genossen und um ihrer
Schönheit willen beständig wiederholt wurden. Hauptsächlich ge-
währte der Chor der Musen, in den verschiedenen Auffassungen, die
wir nachweisen können, einen Vorrath der schönsten Vorbilder für
die Drapirung von Bildnissfiguren, sodass beim einzelnen Torso schwer
zu entscheiden sein wird, ob er für eine Musenstatue oder für ein
als Muse stylisirtes Bildniss gearbeitet worden. Ausserdem sind unter
der Masse der „Gewandstatuen“ Stellungs- und Drapirungs-Motive
von Göttinnen, symbolischen Personificationen, Priesterinnen, Theil-
nehmerinnen an Festzügen, selbst eigentlichen Genrefiguren begriffen;
manche Motive gehören auch ganz ursprünglich der porträtirenden
Kunst an und geben ideal aufgefasste griechische und römische Trach-
ten wieder. — Wenn aus dem ganzen Alterthum keine andern Kunst-
werke erhalten wären, so würden schon diese Gewandtorsen (selbst
die gering ausgeführten nach guten Motiven) uns den höchsten Be-
griff von der alten Kunst geben. Es ist keine ruhig-grossartige und
keine einfach-liebliche Stellung des beseelten Weibes, welche hier nicht
in und mit einer theils prächtigen, theils schlichten Gewandung aus-
gesprochen wäre. Haltung und Gewandung wären beide für sich
schön, aber es ist der hohe Vorzug der antiken Kunst, dass sie ganz
untrennbar zusammengedacht sind und nur mit einander existiren.

Zu den reichsten Motiven gehört das schon bei den Musen vor-
kommende, auf verschiedene Attituden angewandte: theilweise Auf-
hebung des Gegensatzes zwischen Ober- und Untergewand, vermöge
Durchscheinens des letztern durch das erstere. Weit entfernt von der

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[462/0484] Antike Sculptur. Weibliche Gewandstatuen. men von Gewandstatuen zusammen gefasst werden. Für eine kritische Aufzählung (worauf hier kein Anspruch gemacht wird) wäre es unerlässlich, zu ermitteln, welchen göttlichen oder menschlichen Gestalten die verschiedenen Gewandungstypen zukamen. Die Schwie- rigkeit einer solchen Forschung leuchtet ein, wenn man erwägt, dass weit die meisten dieser Statuen gefunden wurden ohne Hände und Attribute, auch kopflos oder mit solchen Köpfen, die ihnen schon im Alterthum willkürlich gegeben worden waren: dass endlich schon das Alterthum häufig vorhandene Göttertypen zu Porträtbildungen benützte. So viel ist immerhin gewiss, dass eine Anzahl von Motiven der Stellung und Gewandung, hauptsächlich aus der spätern Zeit der griechischen Kunst, ein canonisches Ansehen genossen und um ihrer Schönheit willen beständig wiederholt wurden. Hauptsächlich ge- währte der Chor der Musen, in den verschiedenen Auffassungen, die wir nachweisen können, einen Vorrath der schönsten Vorbilder für die Drapirung von Bildnissfiguren, sodass beim einzelnen Torso schwer zu entscheiden sein wird, ob er für eine Musenstatue oder für ein als Muse stylisirtes Bildniss gearbeitet worden. Ausserdem sind unter der Masse der „Gewandstatuen“ Stellungs- und Drapirungs-Motive von Göttinnen, symbolischen Personificationen, Priesterinnen, Theil- nehmerinnen an Festzügen, selbst eigentlichen Genrefiguren begriffen; manche Motive gehören auch ganz ursprünglich der porträtirenden Kunst an und geben ideal aufgefasste griechische und römische Trach- ten wieder. — Wenn aus dem ganzen Alterthum keine andern Kunst- werke erhalten wären, so würden schon diese Gewandtorsen (selbst die gering ausgeführten nach guten Motiven) uns den höchsten Be- griff von der alten Kunst geben. Es ist keine ruhig-grossartige und keine einfach-liebliche Stellung des beseelten Weibes, welche hier nicht in und mit einer theils prächtigen, theils schlichten Gewandung aus- gesprochen wäre. Haltung und Gewandung wären beide für sich schön, aber es ist der hohe Vorzug der antiken Kunst, dass sie ganz untrennbar zusammengedacht sind und nur mit einander existiren. Zu den reichsten Motiven gehört das schon bei den Musen vor- kommende, auf verschiedene Attituden angewandte: theilweise Auf- hebung des Gegensatzes zwischen Ober- und Untergewand, vermöge Durchscheinens des letztern durch das erstere. Weit entfernt von der

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/484>, abgerufen am 16.07.2024.