Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

Venedig. Mastro Bartolommeo.
den Zug der Zeit darauf gekommen, noch ehe die Antikensammlung
des (1394 gebornen) Malers Squarcione in Padua vorhanden war 1).

Sein frühstes Hauptwerk, in der entlegenen Kirche der Abbaziaa
(links vom Portal) ist eine grosse ehemalige Thürlunette; die "Mater
misericordiae", von jener reichen deutschen Lieblichkeit des Antlitzes,
die aus so manchem venezianischen Marmorkopf des XIV. Jahrh.
herausschaut, steht zwischen kleinern knieenden Mönchen, deren Ge-
berden und Bildnisszüge die tiefste Andacht ausdrücken; Engel halten
das Gewand der Jungfrau über ihnen ausgespannt; der übrige Raum
ist ausgefüllt durch Laubwerk mit den Halbfiguren von Propheten;
das Kind ist als Relief in die colossale Agraffe versetzt, welche den
Mantel der Maria zusammenhält -- eine in diesem architektonischen
Styl und in dieser Zeit vollkommen glückliche Kühnheit 2). -- Zu den
Seiten zwei Engelstatuen, decorativ und fast roh wie die Lunette auch,
aber von demselben tiefen Ausdruck. (An der Wand gegenüber drei
Statuen weiblicher Heiligen, schon dem spätern Styl B.'s näher.)

Wenn nun hier noch der germanische Styl, obwohl bereits ge-
mildert, vorherrscht, so zeigt die Portal-Lunette an der Scuola dib
S. Marco einen ganz ähnlichen Gegenstand entschieden in der neuen
Art gebildet. Wir sehen S. Marcus, eine würdige Gestalt, thronend
zwischen der knieenden Bruderschaft, deren Vorsteher ihm die linke
Hand küsst, während er mit der Rechten segnet. Der Styl der neuen
Zeit drückt sich ganz sprechend aus in einem jener neu gewonnenen
Reizmittel, die dem XIV. Jahrh. noch ganz fremd waren: S. Marcus
sitzt nach links und wendet sich nach rechts (vom Beschauer). -- Die
Statuen neben und über der Lunette scheinen neuer und restaurirt.

Das wichtigste spätere Werk B.'s sind dann die Sculpturen an
der Porta della carta des Dogenpalastes (1439). Sowohl in denc
vier Tugenden als in den Engeln und Putten oben trifft er hier --
wahrscheinlich zufällig -- ziemlich nahe mit Quercia zusammen. Mit
dem muthwilligen Herumklettern, ja schon mit der Darstellung dieser
nackten Kinder ist die Renaissance offen ausgesprochen; von den Tu-

1) Vasari, im Leben des Scarpaccia, nennt wohl einen florent. Bildhauer Simone
Bianco, der sein Leben in Venedig zugebracht habe, giebt aber keine Werke
desselben an.
2) Für welche überdiess byzantinische Vorbilder vorhanden waren.

Venedig. Mastro Bartolommeo.
den Zug der Zeit darauf gekommen, noch ehe die Antikensammlung
des (1394 gebornen) Malers Squarcione in Padua vorhanden war 1).

Sein frühstes Hauptwerk, in der entlegenen Kirche der Abbaziaa
(links vom Portal) ist eine grosse ehemalige Thürlunette; die „Mater
misericordiæ“, von jener reichen deutschen Lieblichkeit des Antlitzes,
die aus so manchem venezianischen Marmorkopf des XIV. Jahrh.
herausschaut, steht zwischen kleinern knieenden Mönchen, deren Ge-
berden und Bildnisszüge die tiefste Andacht ausdrücken; Engel halten
das Gewand der Jungfrau über ihnen ausgespannt; der übrige Raum
ist ausgefüllt durch Laubwerk mit den Halbfiguren von Propheten;
das Kind ist als Relief in die colossale Agraffe versetzt, welche den
Mantel der Maria zusammenhält — eine in diesem architektonischen
Styl und in dieser Zeit vollkommen glückliche Kühnheit 2). — Zu den
Seiten zwei Engelstatuen, decorativ und fast roh wie die Lunette auch,
aber von demselben tiefen Ausdruck. (An der Wand gegenüber drei
Statuen weiblicher Heiligen, schon dem spätern Styl B.’s näher.)

Wenn nun hier noch der germanische Styl, obwohl bereits ge-
mildert, vorherrscht, so zeigt die Portal-Lunette an der Scuola dib
S. Marco einen ganz ähnlichen Gegenstand entschieden in der neuen
Art gebildet. Wir sehen S. Marcus, eine würdige Gestalt, thronend
zwischen der knieenden Bruderschaft, deren Vorsteher ihm die linke
Hand küsst, während er mit der Rechten segnet. Der Styl der neuen
Zeit drückt sich ganz sprechend aus in einem jener neu gewonnenen
Reizmittel, die dem XIV. Jahrh. noch ganz fremd waren: S. Marcus
sitzt nach links und wendet sich nach rechts (vom Beschauer). — Die
Statuen neben und über der Lunette scheinen neuer und restaurirt.

Das wichtigste spätere Werk B.’s sind dann die Sculpturen an
der Porta della carta des Dogenpalastes (1439). Sowohl in denc
vier Tugenden als in den Engeln und Putten oben trifft er hier —
wahrscheinlich zufällig — ziemlich nahe mit Quercia zusammen. Mit
dem muthwilligen Herumklettern, ja schon mit der Darstellung dieser
nackten Kinder ist die Renaissance offen ausgesprochen; von den Tu-

1) Vasari, im Leben des Scarpaccia, nennt wohl einen florent. Bildhauer Simone
Bianco, der sein Leben in Venedig zugebracht habe, giebt aber keine Werke
desselben an.
2) Für welche überdiess byzantinische Vorbilder vorhanden waren.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0641" n="619"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Venedig. Mastro Bartolommeo.</hi></fw><lb/>
den Zug der Zeit darauf gekommen, noch ehe die Antikensammlung<lb/>
des (1394 gebornen) Malers Squarcione in Padua vorhanden war <note place="foot" n="1)">Vasari, im Leben des Scarpaccia, nennt wohl einen florent. Bildhauer Simone<lb/>
Bianco, der sein Leben in Venedig zugebracht habe, giebt aber keine Werke<lb/>
desselben an.</note>.</p><lb/>
        <p>Sein frühstes Hauptwerk, in der entlegenen Kirche der <hi rendition="#g">Abbazia</hi><note place="right">a</note><lb/>
(links vom Portal) ist eine grosse ehemalige Thürlunette; die &#x201E;Mater<lb/>
misericordiæ&#x201C;, von jener reichen deutschen Lieblichkeit des Antlitzes,<lb/>
die aus so manchem venezianischen Marmorkopf des XIV. Jahrh.<lb/>
herausschaut, steht zwischen kleinern knieenden Mönchen, deren Ge-<lb/>
berden und Bildnisszüge die tiefste Andacht ausdrücken; Engel halten<lb/>
das Gewand der Jungfrau über ihnen ausgespannt; der übrige Raum<lb/>
ist ausgefüllt durch Laubwerk mit den Halbfiguren von Propheten;<lb/>
das Kind ist als Relief in die colossale Agraffe versetzt, welche den<lb/>
Mantel der Maria zusammenhält &#x2014; eine in diesem architektonischen<lb/>
Styl und in dieser Zeit vollkommen glückliche Kühnheit <note place="foot" n="2)">Für welche überdiess byzantinische Vorbilder vorhanden waren.</note>. &#x2014; Zu den<lb/>
Seiten zwei Engelstatuen, decorativ und fast roh wie die Lunette auch,<lb/>
aber von demselben tiefen Ausdruck. (An der Wand gegenüber drei<lb/>
Statuen weiblicher Heiligen, schon dem spätern Styl B.&#x2019;s näher.)</p><lb/>
        <p>Wenn nun hier noch der germanische Styl, obwohl bereits ge-<lb/>
mildert, vorherrscht, so zeigt die Portal-Lunette an der Scuola di<note place="right">b</note><lb/>
S. Marco einen ganz ähnlichen Gegenstand entschieden in der neuen<lb/>
Art gebildet. Wir sehen S. Marcus, eine würdige Gestalt, thronend<lb/>
zwischen der knieenden Bruderschaft, deren Vorsteher ihm die linke<lb/>
Hand küsst, während er mit der Rechten segnet. Der Styl der neuen<lb/>
Zeit drückt sich ganz sprechend aus in einem jener neu gewonnenen<lb/>
Reizmittel, die dem XIV. Jahrh. noch ganz fremd waren: S. Marcus<lb/>
sitzt nach links und wendet sich nach rechts (vom Beschauer). &#x2014; Die<lb/>
Statuen neben und über der Lunette scheinen neuer und restaurirt.</p><lb/>
        <p>Das wichtigste spätere Werk B.&#x2019;s sind dann die Sculpturen an<lb/>
der <hi rendition="#g">Porta della carta</hi> des Dogenpalastes (1439). Sowohl in den<note place="right">c</note><lb/>
vier Tugenden als in den Engeln und Putten oben trifft er hier &#x2014;<lb/>
wahrscheinlich zufällig &#x2014; ziemlich nahe mit Quercia zusammen. Mit<lb/>
dem muthwilligen Herumklettern, ja schon mit der Darstellung dieser<lb/>
nackten Kinder ist die Renaissance offen ausgesprochen; von den Tu-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[619/0641] Venedig. Mastro Bartolommeo. den Zug der Zeit darauf gekommen, noch ehe die Antikensammlung des (1394 gebornen) Malers Squarcione in Padua vorhanden war 1). Sein frühstes Hauptwerk, in der entlegenen Kirche der Abbazia (links vom Portal) ist eine grosse ehemalige Thürlunette; die „Mater misericordiæ“, von jener reichen deutschen Lieblichkeit des Antlitzes, die aus so manchem venezianischen Marmorkopf des XIV. Jahrh. herausschaut, steht zwischen kleinern knieenden Mönchen, deren Ge- berden und Bildnisszüge die tiefste Andacht ausdrücken; Engel halten das Gewand der Jungfrau über ihnen ausgespannt; der übrige Raum ist ausgefüllt durch Laubwerk mit den Halbfiguren von Propheten; das Kind ist als Relief in die colossale Agraffe versetzt, welche den Mantel der Maria zusammenhält — eine in diesem architektonischen Styl und in dieser Zeit vollkommen glückliche Kühnheit 2). — Zu den Seiten zwei Engelstatuen, decorativ und fast roh wie die Lunette auch, aber von demselben tiefen Ausdruck. (An der Wand gegenüber drei Statuen weiblicher Heiligen, schon dem spätern Styl B.’s näher.) a Wenn nun hier noch der germanische Styl, obwohl bereits ge- mildert, vorherrscht, so zeigt die Portal-Lunette an der Scuola di S. Marco einen ganz ähnlichen Gegenstand entschieden in der neuen Art gebildet. Wir sehen S. Marcus, eine würdige Gestalt, thronend zwischen der knieenden Bruderschaft, deren Vorsteher ihm die linke Hand küsst, während er mit der Rechten segnet. Der Styl der neuen Zeit drückt sich ganz sprechend aus in einem jener neu gewonnenen Reizmittel, die dem XIV. Jahrh. noch ganz fremd waren: S. Marcus sitzt nach links und wendet sich nach rechts (vom Beschauer). — Die Statuen neben und über der Lunette scheinen neuer und restaurirt. b Das wichtigste spätere Werk B.’s sind dann die Sculpturen an der Porta della carta des Dogenpalastes (1439). Sowohl in den vier Tugenden als in den Engeln und Putten oben trifft er hier — wahrscheinlich zufällig — ziemlich nahe mit Quercia zusammen. Mit dem muthwilligen Herumklettern, ja schon mit der Darstellung dieser nackten Kinder ist die Renaissance offen ausgesprochen; von den Tu- c 1) Vasari, im Leben des Scarpaccia, nennt wohl einen florent. Bildhauer Simone Bianco, der sein Leben in Venedig zugebracht habe, giebt aber keine Werke desselben an. 2) Für welche überdiess byzantinische Vorbilder vorhanden waren.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/641
Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 619. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/641>, abgerufen am 17.07.2024.