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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Padua. Aldighiero und d'Avanzo.
über Giotto und seine Schule hinaus. Er führt den physiognomischen
Ausdruck seiner einzelnen Gestalten nach Charakter und Moment bis
ins Äusserste durch, so dass der Rhythmus der Composition bereits
daneben zurücktreten muss. -- Im Jahr 1377 begannen die beiden
Meister die Ausmalung der Cap. San Giorgio auf dem Platze vora
dem Santo. (Bestes Licht: um Mittag. Die Entdeckung dieser Fres-
ken verdankt man Ernst Förster.) Der Antheil Aldighiero's ist hier
nicht näher auszumitteln; jedenfalls kann das Ganze als d'Avanzo's
Werk gelten. In 21 grossen Bildern sind hier die Jugendgeschichten
Christi, die Kreuzigung, die Krönung Mariä, und die Legenden des
h. Georg, der h. Lucia und der h. Catharina dargestellt. Die Com-
position zeigt durchweg die Vorzüge, welche sie bei den besten Giot-
tesken entwickelt; ausser der sprechenden Deutlichkeit des Momentes
ist auch die Gruppenbildung an sich schön, hauptsächlich aber ist
hier in hunderten von Figuren der Charakter des Individuums und
der des Augenblickes auf der ganzen grossen Scala vom Höchsten
bis zum Niedrigsten wirklich gemacht, und zwar ohne Caricatur,
noch innerhalb des Typus jenes Jahrhunderts. In der Schönheit ein-
zelner Köpfe ist d'Avanzo sogar den meisten Giottesken überlegen.
Endlich geht er über diese hinaus durch seine ungleich genauere
Modellirung, durch Abstufung der Töne 1), ja (im letzten Bilde der
h. Lucia) durch bedeutende Versuche zur Illusion. (Richtigere Bau-
perspective, Verjüngung der entferntern Gestalten, und selbst Luft-
perspective.)

Dieses grosse Beispiel blieb einstweilen in Padua selbst ohne
Folge. Die sehr umfangreichen Unternehmungen in Fresco, welche
die nächstfolgende Zeit hervorbrachte, gehören im Ganzen zu den
schwachen und selbst zu den schwächsten Arbeiten des von Giotto
abgeleiteten Styles. Die Fresken des Baptisteriums beim Dom, vonb
den beiden Paduanern Giovanni und Antonio (1380), sind nur
als sehr vollständiger und bequem zu betrachtender Cyclus der für
diese Stelle geeigneten heiligen Gestalten und Scenen von Werthe.
(Zumal im Vergleich mit den Mosaiken des orthodoxen Baptisteriums
von Ravenna ergiebt sich auf merkwürdige Weise der Zuwachs der

1) Seine Palette ist doppelt so reich als die der übrigen Giottesken.

Padua. Aldighiero und d’Avanzo.
über Giotto und seine Schule hinaus. Er führt den physiognomischen
Ausdruck seiner einzelnen Gestalten nach Charakter und Moment bis
ins Äusserste durch, so dass der Rhythmus der Composition bereits
daneben zurücktreten muss. — Im Jahr 1377 begannen die beiden
Meister die Ausmalung der Cap. San Giorgio auf dem Platze vora
dem Santo. (Bestes Licht: um Mittag. Die Entdeckung dieser Fres-
ken verdankt man Ernst Förster.) Der Antheil Aldighiero’s ist hier
nicht näher auszumitteln; jedenfalls kann das Ganze als d’Avanzo’s
Werk gelten. In 21 grossen Bildern sind hier die Jugendgeschichten
Christi, die Kreuzigung, die Krönung Mariä, und die Legenden des
h. Georg, der h. Lucia und der h. Catharina dargestellt. Die Com-
position zeigt durchweg die Vorzüge, welche sie bei den besten Giot-
tesken entwickelt; ausser der sprechenden Deutlichkeit des Momentes
ist auch die Gruppenbildung an sich schön, hauptsächlich aber ist
hier in hunderten von Figuren der Charakter des Individuums und
der des Augenblickes auf der ganzen grossen Scala vom Höchsten
bis zum Niedrigsten wirklich gemacht, und zwar ohne Caricatur,
noch innerhalb des Typus jenes Jahrhunderts. In der Schönheit ein-
zelner Köpfe ist d’Avanzo sogar den meisten Giottesken überlegen.
Endlich geht er über diese hinaus durch seine ungleich genauere
Modellirung, durch Abstufung der Töne 1), ja (im letzten Bilde der
h. Lucia) durch bedeutende Versuche zur Illusion. (Richtigere Bau-
perspective, Verjüngung der entferntern Gestalten, und selbst Luft-
perspective.)

Dieses grosse Beispiel blieb einstweilen in Padua selbst ohne
Folge. Die sehr umfangreichen Unternehmungen in Fresco, welche
die nächstfolgende Zeit hervorbrachte, gehören im Ganzen zu den
schwachen und selbst zu den schwächsten Arbeiten des von Giotto
abgeleiteten Styles. Die Fresken des Baptisteriums beim Dom, vonb
den beiden Paduanern Giovanni und Antonio (1380), sind nur
als sehr vollständiger und bequem zu betrachtender Cyclus der für
diese Stelle geeigneten heiligen Gestalten und Scenen von Werthe.
(Zumal im Vergleich mit den Mosaiken des orthodoxen Baptisteriums
von Ravenna ergiebt sich auf merkwürdige Weise der Zuwachs der

1) Seine Palette ist doppelt so reich als die der übrigen Giottesken.
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[783/0805] Padua. Aldighiero und d’Avanzo. über Giotto und seine Schule hinaus. Er führt den physiognomischen Ausdruck seiner einzelnen Gestalten nach Charakter und Moment bis ins Äusserste durch, so dass der Rhythmus der Composition bereits daneben zurücktreten muss. — Im Jahr 1377 begannen die beiden Meister die Ausmalung der Cap. San Giorgio auf dem Platze vor dem Santo. (Bestes Licht: um Mittag. Die Entdeckung dieser Fres- ken verdankt man Ernst Förster.) Der Antheil Aldighiero’s ist hier nicht näher auszumitteln; jedenfalls kann das Ganze als d’Avanzo’s Werk gelten. In 21 grossen Bildern sind hier die Jugendgeschichten Christi, die Kreuzigung, die Krönung Mariä, und die Legenden des h. Georg, der h. Lucia und der h. Catharina dargestellt. Die Com- position zeigt durchweg die Vorzüge, welche sie bei den besten Giot- tesken entwickelt; ausser der sprechenden Deutlichkeit des Momentes ist auch die Gruppenbildung an sich schön, hauptsächlich aber ist hier in hunderten von Figuren der Charakter des Individuums und der des Augenblickes auf der ganzen grossen Scala vom Höchsten bis zum Niedrigsten wirklich gemacht, und zwar ohne Caricatur, noch innerhalb des Typus jenes Jahrhunderts. In der Schönheit ein- zelner Köpfe ist d’Avanzo sogar den meisten Giottesken überlegen. Endlich geht er über diese hinaus durch seine ungleich genauere Modellirung, durch Abstufung der Töne 1), ja (im letzten Bilde der h. Lucia) durch bedeutende Versuche zur Illusion. (Richtigere Bau- perspective, Verjüngung der entferntern Gestalten, und selbst Luft- perspective.) a Dieses grosse Beispiel blieb einstweilen in Padua selbst ohne Folge. Die sehr umfangreichen Unternehmungen in Fresco, welche die nächstfolgende Zeit hervorbrachte, gehören im Ganzen zu den schwachen und selbst zu den schwächsten Arbeiten des von Giotto abgeleiteten Styles. Die Fresken des Baptisteriums beim Dom, von den beiden Paduanern Giovanni und Antonio (1380), sind nur als sehr vollständiger und bequem zu betrachtender Cyclus der für diese Stelle geeigneten heiligen Gestalten und Scenen von Werthe. (Zumal im Vergleich mit den Mosaiken des orthodoxen Baptisteriums von Ravenna ergiebt sich auf merkwürdige Weise der Zuwachs der b 1) Seine Palette ist doppelt so reich als die der übrigen Giottesken.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 783. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/805>, abgerufen am 16.07.2024.