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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Malerei des XV. Jahrhunderts.
[Abbildung]

In den ersten Jahrzehnden des XV. Jahrh. kam ein neuer Geist
über die abendländische Malerei. Im Dienst der Kirche verharrend,
entwickelte sie doch fortan Principien, die zu der rein kirchlichen
Aufgabe in keiner Beziehung mehr standen. Das Kunstwerk giebt
zunächst mehr als die Kirche verlangt; ausser den religiösen Be-
ziehungen gewährt es jetzt ein Abbild der wirklichen Welt; der
Künstler vertieft sich in die Erforschung und Darstellung des äussern
Scheines der Dinge und gewinnt der menschlichen Gestalt sowohl als
der räumlichen Umgebung allmälig alle ihre Erscheinungsweisen ab.
(Realismus.) An die Stelle der allgemeinen Gesichtstypen treten
Individualitäten; das bisherige System des Ausdruckes, der Geberden
und Gewandungen wird durch eine unendlich reiche Lebenswahrheit
ersetzt, die für jeden einzelnen Fall eine besondere Sprache redet
oder zu reden sucht. Die Schönheit, bisher als höchstes Attribut
des Heiligen erstrebt und auch oft gefunden, weicht jetzt der all-
bezeichnenden Deutlichkeit, welche der erste Gedanke der neuen Kunst
ist; wo sie aber sich dennoch Bahn macht, ist es eine neugeborene
sinnliche Schönheit, die ihren Antheil am Irdischen und Wirklichen
unverkürzt haben muss, weil sie sonst in der neuen Kunstwelt gar
keine Stelle fände.

In diesem Sinne giebt jetzt das Kunstwerk weniger als die
Kirche verlangt oder verlangen könnte. Der religiöse Gehalt nimmt
eine ausschliessliche Herrschaft in Anspruch, wenn er gedeihen soll.
Und diess aus einem einfachen Grunde, den man sich nur nicht immer
klar eingesteht; dieser Gehalt ist nämlich wesentlich negativer Art
und besteht im Fernhalten alles dessen, was an profane Lebensbe-

Malerei des XV. Jahrhunderts.
[Abbildung]

In den ersten Jahrzehnden des XV. Jahrh. kam ein neuer Geist
über die abendländische Malerei. Im Dienst der Kirche verharrend,
entwickelte sie doch fortan Principien, die zu der rein kirchlichen
Aufgabe in keiner Beziehung mehr standen. Das Kunstwerk giebt
zunächst mehr als die Kirche verlangt; ausser den religiösen Be-
ziehungen gewährt es jetzt ein Abbild der wirklichen Welt; der
Künstler vertieft sich in die Erforschung und Darstellung des äussern
Scheines der Dinge und gewinnt der menschlichen Gestalt sowohl als
der räumlichen Umgebung allmälig alle ihre Erscheinungsweisen ab.
(Realismus.) An die Stelle der allgemeinen Gesichtstypen treten
Individualitäten; das bisherige System des Ausdruckes, der Geberden
und Gewandungen wird durch eine unendlich reiche Lebenswahrheit
ersetzt, die für jeden einzelnen Fall eine besondere Sprache redet
oder zu reden sucht. Die Schönheit, bisher als höchstes Attribut
des Heiligen erstrebt und auch oft gefunden, weicht jetzt der all-
bezeichnenden Deutlichkeit, welche der erste Gedanke der neuen Kunst
ist; wo sie aber sich dennoch Bahn macht, ist es eine neugeborene
sinnliche Schönheit, die ihren Antheil am Irdischen und Wirklichen
unverkürzt haben muss, weil sie sonst in der neuen Kunstwelt gar
keine Stelle fände.

In diesem Sinne giebt jetzt das Kunstwerk weniger als die
Kirche verlangt oder verlangen könnte. Der religiöse Gehalt nimmt
eine ausschliessliche Herrschaft in Anspruch, wenn er gedeihen soll.
Und diess aus einem einfachen Grunde, den man sich nur nicht immer
klar eingesteht; dieser Gehalt ist nämlich wesentlich negativer Art
und besteht im Fernhalten alles dessen, was an profane Lebensbe-

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[793/0815] Malerei des XV. Jahrhunderts. [Abbildung] In den ersten Jahrzehnden des XV. Jahrh. kam ein neuer Geist über die abendländische Malerei. Im Dienst der Kirche verharrend, entwickelte sie doch fortan Principien, die zu der rein kirchlichen Aufgabe in keiner Beziehung mehr standen. Das Kunstwerk giebt zunächst mehr als die Kirche verlangt; ausser den religiösen Be- ziehungen gewährt es jetzt ein Abbild der wirklichen Welt; der Künstler vertieft sich in die Erforschung und Darstellung des äussern Scheines der Dinge und gewinnt der menschlichen Gestalt sowohl als der räumlichen Umgebung allmälig alle ihre Erscheinungsweisen ab. (Realismus.) An die Stelle der allgemeinen Gesichtstypen treten Individualitäten; das bisherige System des Ausdruckes, der Geberden und Gewandungen wird durch eine unendlich reiche Lebenswahrheit ersetzt, die für jeden einzelnen Fall eine besondere Sprache redet oder zu reden sucht. Die Schönheit, bisher als höchstes Attribut des Heiligen erstrebt und auch oft gefunden, weicht jetzt der all- bezeichnenden Deutlichkeit, welche der erste Gedanke der neuen Kunst ist; wo sie aber sich dennoch Bahn macht, ist es eine neugeborene sinnliche Schönheit, die ihren Antheil am Irdischen und Wirklichen unverkürzt haben muss, weil sie sonst in der neuen Kunstwelt gar keine Stelle fände. In diesem Sinne giebt jetzt das Kunstwerk weniger als die Kirche verlangt oder verlangen könnte. Der religiöse Gehalt nimmt eine ausschliessliche Herrschaft in Anspruch, wenn er gedeihen soll. Und diess aus einem einfachen Grunde, den man sich nur nicht immer klar eingesteht; dieser Gehalt ist nämlich wesentlich negativer Art und besteht im Fernhalten alles dessen, was an profane Lebensbe-

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 793. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/815>, abgerufen am 16.07.2024.