Pal. Pitti kömmt. Ohne Lionardo's unendliche Energie sind es docha so gross aufgefasste Menschenbilder, zum Theil von wahrhaft himm- lischem Ausdruck. Zwei runde Frescogemälde in derselben Academie,b Madonnen, sind bei ihrer flüchtigen Ausführung als Linienprobleme merkwürdig; in dem einen hat er offenbar hauptsächlich die vier Hände und die beiden Füsse schön zu ordnen gestrebt. -- Für den Einzel- ausdruck ist sonst seine Kreuzabnahme (Pal. Pitti) das Haupt-c werk. Mit welcher Macht wirken hier die beiden Profile des höchst edel gebildeten Christus und der alles vergessenden Mutter, die ihm noch den letzten Kuss auf die Stirne drücken will! mit welcher un- trüglichen dramatischen Sicherheit ist der Schmerz des Johannes durch Beimischung der körperlichen Anstrengung unterschieden! Kein Kla- gen aus dem Bilde hinaus wie bei Van Dyck; keine vermeintliche Stei- gerung des Eindruckes durch Häufung der Figuren wie bei Perugino.
Die übrigen Bilder sind fast sämmtlich grandiose Constructionen, mit strenger und im Einzelnen sehr schön aufgehobener Symmetrie. Wo die Charaktere aus seinem Innern kommen, sind es lauter Werke ersten Ranges.
Leider ist die einzige grössere Scene dieser Art, das Fresco einesd jüngsten Gerichtes hei S. Maria la nuova (in einem Verschlag in dem Hofe links von der Kirche) beinahe erloschen. Doch erkennt man in dem herrlichen obern Halbkreise von Heiligen dieselbe Inspi- ration, welche Rafael das Fresco von S. Severo in Perugia (1506) und die obere Gruppe der Disputa (1508) eingab. Wenn es ein spä- tes Werk ist, so entstand es unter der Rückwirkung Rafaels, der wenige Jahre vorher gerade in dieser Beziehung vom Frate gelernt zu haben scheint.
Von Altarbildern ist dasjenige im Dom von Lucca (hinterstee Cap. links), eine Madonna mit zwei Heiligen, früh und ganz beson- ders schön und seelenvoll. (Dagegen die grosse späte Madonna dellaf misericordia in S. Romano zu Lucca, links, zwar im Einzelnen vor- trefflich, als Ganzes aber weniger unbefangen.) -- In S. Marco zug Florenz (2. Alt. r.) ein ebenfalls frühes sehr grosses Bild, welches B.'s Compositionsweise im Augenblick ihrer nahen Vollendung zeigt; die Madonna glänzend edel und leicht gestellt; die beiden knieenden
B. Cicerone. 56
Fresken und Altarbilder.
Pal. Pitti kömmt. Ohne Lionardo’s unendliche Energie sind es docha so gross aufgefasste Menschenbilder, zum Theil von wahrhaft himm- lischem Ausdruck. Zwei runde Frescogemälde in derselben Academie,b Madonnen, sind bei ihrer flüchtigen Ausführung als Linienprobleme merkwürdig; in dem einen hat er offenbar hauptsächlich die vier Hände und die beiden Füsse schön zu ordnen gestrebt. — Für den Einzel- ausdruck ist sonst seine Kreuzabnahme (Pal. Pitti) das Haupt-c werk. Mit welcher Macht wirken hier die beiden Profile des höchst edel gebildeten Christus und der alles vergessenden Mutter, die ihm noch den letzten Kuss auf die Stirne drücken will! mit welcher un- trüglichen dramatischen Sicherheit ist der Schmerz des Johannes durch Beimischung der körperlichen Anstrengung unterschieden! Kein Kla- gen aus dem Bilde hinaus wie bei Van Dyck; keine vermeintliche Stei- gerung des Eindruckes durch Häufung der Figuren wie bei Perugino.
Die übrigen Bilder sind fast sämmtlich grandiose Constructionen, mit strenger und im Einzelnen sehr schön aufgehobener Symmetrie. Wo die Charaktere aus seinem Innern kommen, sind es lauter Werke ersten Ranges.
Leider ist die einzige grössere Scene dieser Art, das Fresco einesd jüngsten Gerichtes hei S. Maria la nuova (in einem Verschlag in dem Hofe links von der Kirche) beinahe erloschen. Doch erkennt man in dem herrlichen obern Halbkreise von Heiligen dieselbe Inspi- ration, welche Rafael das Fresco von S. Severo in Perugia (1506) und die obere Gruppe der Disputa (1508) eingab. Wenn es ein spä- tes Werk ist, so entstand es unter der Rückwirkung Rafaels, der wenige Jahre vorher gerade in dieser Beziehung vom Frate gelernt zu haben scheint.
Von Altarbildern ist dasjenige im Dom von Lucca (hinterstee Cap. links), eine Madonna mit zwei Heiligen, früh und ganz beson- ders schön und seelenvoll. (Dagegen die grosse späte Madonna dellaf misericordia in S. Romano zu Lucca, links, zwar im Einzelnen vor- trefflich, als Ganzes aber weniger unbefangen.) — In S. Marco zug Florenz (2. Alt. r.) ein ebenfalls frühes sehr grosses Bild, welches B.’s Compositionsweise im Augenblick ihrer nahen Vollendung zeigt; die Madonna glänzend edel und leicht gestellt; die beiden knieenden
B. Cicerone. 56
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Fresken und Altarbilder.
Pal. Pitti kömmt. Ohne Lionardo’s unendliche Energie sind es doch
so gross aufgefasste Menschenbilder, zum Theil von wahrhaft himm-
lischem Ausdruck. Zwei runde Frescogemälde in derselben Academie,
Madonnen, sind bei ihrer flüchtigen Ausführung als Linienprobleme
merkwürdig; in dem einen hat er offenbar hauptsächlich die vier Hände
und die beiden Füsse schön zu ordnen gestrebt. — Für den Einzel-
ausdruck ist sonst seine Kreuzabnahme (Pal. Pitti) das Haupt-
werk. Mit welcher Macht wirken hier die beiden Profile des höchst
edel gebildeten Christus und der alles vergessenden Mutter, die ihm
noch den letzten Kuss auf die Stirne drücken will! mit welcher un-
trüglichen dramatischen Sicherheit ist der Schmerz des Johannes durch
Beimischung der körperlichen Anstrengung unterschieden! Kein Kla-
gen aus dem Bilde hinaus wie bei Van Dyck; keine vermeintliche Stei-
gerung des Eindruckes durch Häufung der Figuren wie bei Perugino.
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Die übrigen Bilder sind fast sämmtlich grandiose Constructionen,
mit strenger und im Einzelnen sehr schön aufgehobener Symmetrie.
Wo die Charaktere aus seinem Innern kommen, sind es lauter Werke
ersten Ranges.
Leider ist die einzige grössere Scene dieser Art, das Fresco eines
jüngsten Gerichtes hei S. Maria la nuova (in einem Verschlag in
dem Hofe links von der Kirche) beinahe erloschen. Doch erkennt
man in dem herrlichen obern Halbkreise von Heiligen dieselbe Inspi-
ration, welche Rafael das Fresco von S. Severo in Perugia (1506)
und die obere Gruppe der Disputa (1508) eingab. Wenn es ein spä-
tes Werk ist, so entstand es unter der Rückwirkung Rafaels, der
wenige Jahre vorher gerade in dieser Beziehung vom Frate gelernt
zu haben scheint.
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Von Altarbildern ist dasjenige im Dom von Lucca (hinterste
Cap. links), eine Madonna mit zwei Heiligen, früh und ganz beson-
ders schön und seelenvoll. (Dagegen die grosse späte Madonna della
misericordia in S. Romano zu Lucca, links, zwar im Einzelnen vor-
trefflich, als Ganzes aber weniger unbefangen.) — In S. Marco zu
Florenz (2. Alt. r.) ein ebenfalls frühes sehr grosses Bild, welches
B.’s Compositionsweise im Augenblick ihrer nahen Vollendung zeigt;
die Madonna glänzend edel und leicht gestellt; die beiden knieenden
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 881. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/903>, abgerufen am 05.12.2024.
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