Es blieben nun für die Gemälde bloss historische Figuren übrig, denn der Gottvater und die Engel in der Disputa, die Musen im Parnass u. dgl. gelten doch wohl als solche. (Der obere Theil der Wand, welche der Jurisprudenz gewidmet ist, enthält allerdings noch eine Allegorie, allein in einem besondern Raum abgetrennt.) Alle Ge- stalten konnten nun gleichmässig, in einem und demselben Style be- lebt werden.
Warum hat Rafael in dem Bilde der Gerechtigkeit nicht eine geistig angeregte Gemeinschaft berühmter Juristen dargestellt, wie er diess in den drei übrigen Bildern mit den Theologen, Dichtern und Weltweisen gethan? warum statt dessen zwei einzelne historische Acte der Gesetzgebung? Weil der mögliche Gegenstand einer "Disputa" von Juristen entweder ausserhalb des Bildes, d. h. unsichtbar geblie- ben wäre, oder, durch sachliche Beziehungen verdeutlicht, aus dem hohen idealen Styl hätte herausfallen müssen.
Nach der Ausscheidung des Allegorischen blieb also das Histo- risch-Symbolische als Hauptgehalt der vier grossen Darstellungen übrig.
Rafael hat hier ein wahrhaft gefährlich-lockendes Vorbild hinge- stellt. Eine grosse Anzahl von Gemälden analogen Inhaltes sind seit- dem geschaffen worden, zum Theil von grossen Künstlern; sie erscheinen sämmtlich als von Rafael abhängig oder als ihm weit untergeordnet. Wesshalb? Gewiss nicht bloss weil es nur Einen Rafael gegeben hat.
Er war von vornherein im Vortheil durch die Unbefangenheit in antiquarischer Beziehung. An sehr wenige überlieferte Porträts ge- bunden, durfte er lauter Charaktergestalten aus sich selber schaffen; in der Disputa z. B. war die Tracht das einzige kenntlich machende Attribut, welches auch völlig genügte. Er musste nicht die Köpfe so und so stellen, damit man sie auf gelehrtem Wege verificiren könne. Diese grössere sachliche Freiheit kam durchaus der Composition nach rein malerischen Motiven zu Gute. Es sind fast lauter Gestalten einer mehr oder weniger entfernten Vergangenheit, die schon nur in ideali- sirender Erinnerung fortlebten 1).
1) Über die Bedeutung der einzelnen Personen in den sämmtlichen Fresken fin- det man bei Platner, Beschreibung Roms, S. 113 ff., gewissenhafte Auskunft.
B. Cicerone. 58
Camera della Segnatura.
Es blieben nun für die Gemälde bloss historische Figuren übrig, denn der Gottvater und die Engel in der Disputa, die Musen im Parnass u. dgl. gelten doch wohl als solche. (Der obere Theil der Wand, welche der Jurisprudenz gewidmet ist, enthält allerdings noch eine Allegorie, allein in einem besondern Raum abgetrennt.) Alle Ge- stalten konnten nun gleichmässig, in einem und demselben Style be- lebt werden.
Warum hat Rafael in dem Bilde der Gerechtigkeit nicht eine geistig angeregte Gemeinschaft berühmter Juristen dargestellt, wie er diess in den drei übrigen Bildern mit den Theologen, Dichtern und Weltweisen gethan? warum statt dessen zwei einzelne historische Acte der Gesetzgebung? Weil der mögliche Gegenstand einer „Disputa“ von Juristen entweder ausserhalb des Bildes, d. h. unsichtbar geblie- ben wäre, oder, durch sachliche Beziehungen verdeutlicht, aus dem hohen idealen Styl hätte herausfallen müssen.
Nach der Ausscheidung des Allegorischen blieb also das Histo- risch-Symbolische als Hauptgehalt der vier grossen Darstellungen übrig.
Rafael hat hier ein wahrhaft gefährlich-lockendes Vorbild hinge- stellt. Eine grosse Anzahl von Gemälden analogen Inhaltes sind seit- dem geschaffen worden, zum Theil von grossen Künstlern; sie erscheinen sämmtlich als von Rafael abhängig oder als ihm weit untergeordnet. Wesshalb? Gewiss nicht bloss weil es nur Einen Rafael gegeben hat.
Er war von vornherein im Vortheil durch die Unbefangenheit in antiquarischer Beziehung. An sehr wenige überlieferte Porträts ge- bunden, durfte er lauter Charaktergestalten aus sich selber schaffen; in der Disputa z. B. war die Tracht das einzige kenntlich machende Attribut, welches auch völlig genügte. Er musste nicht die Köpfe so und so stellen, damit man sie auf gelehrtem Wege verificiren könne. Diese grössere sachliche Freiheit kam durchaus der Composition nach rein malerischen Motiven zu Gute. Es sind fast lauter Gestalten einer mehr oder weniger entfernten Vergangenheit, die schon nur in ideali- sirender Erinnerung fortlebten 1).
1) Über die Bedeutung der einzelnen Personen in den sämmtlichen Fresken fin- det man bei Platner, Beschreibung Roms, S. 113 ff., gewissenhafte Auskunft.
B. Cicerone. 58
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0935"n="913"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Camera della Segnatura.</hi></fw><lb/><p>Es blieben nun für die Gemälde bloss historische Figuren übrig,<lb/>
denn der Gottvater und die Engel in der Disputa, die Musen im<lb/>
Parnass u. dgl. gelten doch wohl als solche. (Der obere Theil der<lb/>
Wand, welche der Jurisprudenz gewidmet ist, enthält allerdings noch<lb/>
eine Allegorie, allein in einem besondern Raum abgetrennt.) Alle Ge-<lb/>
stalten konnten nun gleichmässig, in einem und demselben Style be-<lb/>
lebt werden.</p><lb/><p>Warum hat Rafael in dem Bilde der Gerechtigkeit nicht eine<lb/>
geistig angeregte Gemeinschaft berühmter Juristen dargestellt, wie er<lb/>
diess in den drei übrigen Bildern mit den Theologen, Dichtern und<lb/>
Weltweisen gethan? warum statt dessen zwei einzelne historische Acte<lb/>
der Gesetzgebung? Weil der mögliche Gegenstand einer „Disputa“<lb/>
von Juristen entweder ausserhalb des Bildes, d. h. unsichtbar geblie-<lb/>
ben wäre, oder, durch sachliche Beziehungen verdeutlicht, aus dem<lb/>
hohen idealen Styl hätte herausfallen müssen.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Nach der Ausscheidung des Allegorischen blieb also das Histo-<lb/>
risch-Symbolische als Hauptgehalt der vier grossen Darstellungen übrig.</p><lb/><p>Rafael hat hier ein wahrhaft gefährlich-lockendes Vorbild hinge-<lb/>
stellt. Eine grosse Anzahl von Gemälden analogen Inhaltes sind seit-<lb/>
dem geschaffen worden, zum Theil von grossen Künstlern; sie erscheinen<lb/>
sämmtlich als von Rafael abhängig oder als ihm weit untergeordnet.<lb/>
Wesshalb? Gewiss nicht bloss weil es nur Einen Rafael gegeben hat.</p><lb/><p>Er war von vornherein im Vortheil durch die Unbefangenheit in<lb/>
antiquarischer Beziehung. An sehr wenige überlieferte Porträts ge-<lb/>
bunden, durfte er lauter Charaktergestalten aus sich selber schaffen;<lb/>
in der Disputa z. B. war die Tracht das einzige kenntlich machende<lb/>
Attribut, welches auch völlig genügte. Er musste nicht die Köpfe so<lb/>
und so stellen, damit man sie auf gelehrtem Wege verificiren könne.<lb/>
Diese grössere sachliche Freiheit kam durchaus der Composition nach<lb/>
rein malerischen Motiven zu Gute. Es sind fast lauter Gestalten einer<lb/>
mehr oder weniger entfernten Vergangenheit, die schon nur in ideali-<lb/>
sirender Erinnerung fortlebten <noteplace="foot"n="1)">Über die Bedeutung der einzelnen Personen in den sämmtlichen Fresken fin-<lb/>
det man bei Platner, Beschreibung Roms, S. 113 ff., gewissenhafte Auskunft.</note>.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#i">B. Cicerone.</hi> 58</fw><lb/></div></body></text></TEI>
[913/0935]
Camera della Segnatura.
Es blieben nun für die Gemälde bloss historische Figuren übrig,
denn der Gottvater und die Engel in der Disputa, die Musen im
Parnass u. dgl. gelten doch wohl als solche. (Der obere Theil der
Wand, welche der Jurisprudenz gewidmet ist, enthält allerdings noch
eine Allegorie, allein in einem besondern Raum abgetrennt.) Alle Ge-
stalten konnten nun gleichmässig, in einem und demselben Style be-
lebt werden.
Warum hat Rafael in dem Bilde der Gerechtigkeit nicht eine
geistig angeregte Gemeinschaft berühmter Juristen dargestellt, wie er
diess in den drei übrigen Bildern mit den Theologen, Dichtern und
Weltweisen gethan? warum statt dessen zwei einzelne historische Acte
der Gesetzgebung? Weil der mögliche Gegenstand einer „Disputa“
von Juristen entweder ausserhalb des Bildes, d. h. unsichtbar geblie-
ben wäre, oder, durch sachliche Beziehungen verdeutlicht, aus dem
hohen idealen Styl hätte herausfallen müssen.
Nach der Ausscheidung des Allegorischen blieb also das Histo-
risch-Symbolische als Hauptgehalt der vier grossen Darstellungen übrig.
Rafael hat hier ein wahrhaft gefährlich-lockendes Vorbild hinge-
stellt. Eine grosse Anzahl von Gemälden analogen Inhaltes sind seit-
dem geschaffen worden, zum Theil von grossen Künstlern; sie erscheinen
sämmtlich als von Rafael abhängig oder als ihm weit untergeordnet.
Wesshalb? Gewiss nicht bloss weil es nur Einen Rafael gegeben hat.
Er war von vornherein im Vortheil durch die Unbefangenheit in
antiquarischer Beziehung. An sehr wenige überlieferte Porträts ge-
bunden, durfte er lauter Charaktergestalten aus sich selber schaffen;
in der Disputa z. B. war die Tracht das einzige kenntlich machende
Attribut, welches auch völlig genügte. Er musste nicht die Köpfe so
und so stellen, damit man sie auf gelehrtem Wege verificiren könne.
Diese grössere sachliche Freiheit kam durchaus der Composition nach
rein malerischen Motiven zu Gute. Es sind fast lauter Gestalten einer
mehr oder weniger entfernten Vergangenheit, die schon nur in ideali-
sirender Erinnerung fortlebten 1).
1) Über die Bedeutung der einzelnen Personen in den sämmtlichen Fresken fin-
det man bei Platner, Beschreibung Roms, S. 113 ff., gewissenhafte Auskunft.
B. Cicerone. 58
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 913. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/935>, abgerufen am 05.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.