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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Stanza d'Eliodoro.
Gemälde war der Heliodor. Welch ein Athemschöpfen nach den
symbolisch bedingten Bildern der Camera della Segnatura! Er hat
keine grossartigere bewegte Gruppe mehr geschaffen als die des himm-
lischen Reiters, mit den im Sturm zu seiner Seite schwebenden Jüng-
lingen und dem gestürzten Frevler nebst dessen Begleitern. Woher
die Erscheinung gekommen, wo sie vorübergesaust ist, zeigt der leere
Raum in der Mitte des Vordergrundes, welcher den Blick auf die
Gruppe um den Altar des Tempels frei lässt. Man bewundert mit
Recht die Verkürzung in dem Reiter und in dem Heliodor, aber sie
ist nur der meisterhafte Ausdruck für das Wesentliche, nämlich die
glücklichste Schiebung der Figuren selbst. Die Gruppe der Frauen
und Kinder, deren hundertfältiges Echo durch die ganze spätere Kunst
geht, verdient hier im Urbild ebenfalls, dass man sie sich genau ein-
präge. Endlich musste dem Papst sein Genüge geschehen; in voller
Wirklichkeit auf seinem Tragsessel thronend schaut er ruhig auf das
Wunder hin, als käme es ihm gar nicht unerwartet. An dem Bildniss
Marc Antons, der als Träger des Sessels mitgeht, hat man den be-
stimmten Beweis, dass R. seine Porträtpersonen wenigstens zum Theil
freiwillig anbrachte.

Die Messe von Bolsena war eine viel einseitigere Aufgabe
als der Heliodor. Das Geschehen des Wunders beschränkt sich auf
einen ganz kleinen Fleck; es wäre ungefähr dasselbe, wenn ein Dra-
matiker die Peripetie seines Stückes auf das Verwechseln eines Ringes
oder sonst auf ein scenisch kaum sichtbares Ereigniss bauen müsste.
Aber innerhalb dieser Schranken ist das Herrlichste gegeben. Die
Wahrnehmung und die Ahnung des Wunders geht wie ein geistiger
Strom durch die andächtige Menge links und der Reflex davon belebt
auch schon die unten an der Treppe sitzenden Frauen und Kinder;
in der Gruppe des Papstes und seiner Begleiter ist es ruhige Gewiss-
heit, wie sie den mit tausend Wundern vertrauten Fürsten der Kirche
zukömmt, und von diesem Ausdruck durften auch die unten knienden
Obersten der Schweizergarde nicht zu weit abweichen. An und für
sich sind sie ein Vorbild monumentaler Costümbehandlung. -- Die
Anordnung neben und über dem nicht einmal in der Mitte der Wand
stehenden Fenster scheint für Rafael ein wahres Spiel gewesen zu
sein; eben aus der Unregelmässigkeit entwickeln sich für ihn die

Stanza d’Eliodoro.
Gemälde war der Heliodor. Welch ein Athemschöpfen nach den
symbolisch bedingten Bildern der Camera della Segnatura! Er hat
keine grossartigere bewegte Gruppe mehr geschaffen als die des himm-
lischen Reiters, mit den im Sturm zu seiner Seite schwebenden Jüng-
lingen und dem gestürzten Frevler nebst dessen Begleitern. Woher
die Erscheinung gekommen, wo sie vorübergesaust ist, zeigt der leere
Raum in der Mitte des Vordergrundes, welcher den Blick auf die
Gruppe um den Altar des Tempels frei lässt. Man bewundert mit
Recht die Verkürzung in dem Reiter und in dem Heliodor, aber sie
ist nur der meisterhafte Ausdruck für das Wesentliche, nämlich die
glücklichste Schiebung der Figuren selbst. Die Gruppe der Frauen
und Kinder, deren hundertfältiges Echo durch die ganze spätere Kunst
geht, verdient hier im Urbild ebenfalls, dass man sie sich genau ein-
präge. Endlich musste dem Papst sein Genüge geschehen; in voller
Wirklichkeit auf seinem Tragsessel thronend schaut er ruhig auf das
Wunder hin, als käme es ihm gar nicht unerwartet. An dem Bildniss
Marc Antons, der als Träger des Sessels mitgeht, hat man den be-
stimmten Beweis, dass R. seine Porträtpersonen wenigstens zum Theil
freiwillig anbrachte.

Die Messe von Bolsena war eine viel einseitigere Aufgabe
als der Heliodor. Das Geschehen des Wunders beschränkt sich auf
einen ganz kleinen Fleck; es wäre ungefähr dasselbe, wenn ein Dra-
matiker die Peripetie seines Stückes auf das Verwechseln eines Ringes
oder sonst auf ein scenisch kaum sichtbares Ereigniss bauen müsste.
Aber innerhalb dieser Schranken ist das Herrlichste gegeben. Die
Wahrnehmung und die Ahnung des Wunders geht wie ein geistiger
Strom durch die andächtige Menge links und der Reflex davon belebt
auch schon die unten an der Treppe sitzenden Frauen und Kinder;
in der Gruppe des Papstes und seiner Begleiter ist es ruhige Gewiss-
heit, wie sie den mit tausend Wundern vertrauten Fürsten der Kirche
zukömmt, und von diesem Ausdruck durften auch die unten knienden
Obersten der Schweizergarde nicht zu weit abweichen. An und für
sich sind sie ein Vorbild monumentaler Costümbehandlung. — Die
Anordnung neben und über dem nicht einmal in der Mitte der Wand
stehenden Fenster scheint für Rafael ein wahres Spiel gewesen zu
sein; eben aus der Unregelmässigkeit entwickeln sich für ihn die

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[919/0941] Stanza d’Eliodoro. Gemälde war der Heliodor. Welch ein Athemschöpfen nach den symbolisch bedingten Bildern der Camera della Segnatura! Er hat keine grossartigere bewegte Gruppe mehr geschaffen als die des himm- lischen Reiters, mit den im Sturm zu seiner Seite schwebenden Jüng- lingen und dem gestürzten Frevler nebst dessen Begleitern. Woher die Erscheinung gekommen, wo sie vorübergesaust ist, zeigt der leere Raum in der Mitte des Vordergrundes, welcher den Blick auf die Gruppe um den Altar des Tempels frei lässt. Man bewundert mit Recht die Verkürzung in dem Reiter und in dem Heliodor, aber sie ist nur der meisterhafte Ausdruck für das Wesentliche, nämlich die glücklichste Schiebung der Figuren selbst. Die Gruppe der Frauen und Kinder, deren hundertfältiges Echo durch die ganze spätere Kunst geht, verdient hier im Urbild ebenfalls, dass man sie sich genau ein- präge. Endlich musste dem Papst sein Genüge geschehen; in voller Wirklichkeit auf seinem Tragsessel thronend schaut er ruhig auf das Wunder hin, als käme es ihm gar nicht unerwartet. An dem Bildniss Marc Antons, der als Träger des Sessels mitgeht, hat man den be- stimmten Beweis, dass R. seine Porträtpersonen wenigstens zum Theil freiwillig anbrachte. Die Messe von Bolsena war eine viel einseitigere Aufgabe als der Heliodor. Das Geschehen des Wunders beschränkt sich auf einen ganz kleinen Fleck; es wäre ungefähr dasselbe, wenn ein Dra- matiker die Peripetie seines Stückes auf das Verwechseln eines Ringes oder sonst auf ein scenisch kaum sichtbares Ereigniss bauen müsste. Aber innerhalb dieser Schranken ist das Herrlichste gegeben. Die Wahrnehmung und die Ahnung des Wunders geht wie ein geistiger Strom durch die andächtige Menge links und der Reflex davon belebt auch schon die unten an der Treppe sitzenden Frauen und Kinder; in der Gruppe des Papstes und seiner Begleiter ist es ruhige Gewiss- heit, wie sie den mit tausend Wundern vertrauten Fürsten der Kirche zukömmt, und von diesem Ausdruck durften auch die unten knienden Obersten der Schweizergarde nicht zu weit abweichen. An und für sich sind sie ein Vorbild monumentaler Costümbehandlung. — Die Anordnung neben und über dem nicht einmal in der Mitte der Wand stehenden Fenster scheint für Rafael ein wahres Spiel gewesen zu sein; eben aus der Unregelmässigkeit entwickeln sich für ihn die

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 919. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/941>, abgerufen am 05.12.2024.