Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht. sie gefaßt ist, mehreren dasselbe Recht zuspricht. Wenn z. B.ein Gut als grundsätzlich herrenlos und dem ersten Okkupanten oder gar dem jeweiligen Okkupanten zugesprochen würde1, so könnte jeder mit gleichem Recht okkupieren und unter diesen Okkupierenden wäre keine Ordnung getroffen, weil das Gesetz ihnen allen gleicherweise das Gut zuerteilt. Das wird zwar im Landesrecht2 selten in dieser krassen Weise vorkommen, aber in weniger krasser Weise nicht so selten. Wenn das Gesetz z. B. die Quelle jedem zuspricht, der sich ihrer durch Graben und Abgraben bemächtigen kann, so ist das im kleinen dasselbe. Es ist den Worten nach eine Regelung; inhaltlich aber ist es widerspruchs- voll, weil das Recht schlechthin von dem tatsächlichen Verhalten, von der Willkür der Beteiligten, vom Zufall abhängig gemacht wird: da jeder durch solches Verhalten die Voraussetzung der Berechtigung setzen kann, kann auch jeder das Recht, das doch nur einem gehören kann, für sich in Anspruch nehmen, und jedes (subjektive) Recht kann beliebig vom anderen wieder in Frage gestellt werden; es besteht also keine feste Abgrenzung der Rechts- sphären. Praktisch kommt aber der eine wie der andere Fehler auf 1 Vgl. Stammler, Das Recht im staatlosen Gebiet, Abh. I, 371. 2 Im Völkerrecht ist nicht weit davon entfernt der Satz, daß das
offene Meer frei ist, d. h. von jedem gleicherweise genutzt werden kann; wenn der Grundsatz der Freiheit beschränkt wird auf diese Gleichheit, so kommt man notwendigerweise auf eine Konkurrenz von Ansprüchen, die sich widersprechen. Vernünftigerweise muß man also auch hier die Freiheit im positiven Sinne einer Freiheit in der Ordnung, einer vernünftigen Frei- heit auffassen, da das Recht nicht wohl eine andere gewährleisten kann. Man gerät dann allerdings in Widerspruch mit dem anderen Satz, daß das offene Meer res nullius sei; denn wenn alle Staaten nach einer festen Ord- nung berechtigt sind, das offene Meer zu nutzen und zu benutzen, so kann man nicht wohl anders als von einem condominium der Meere reden. Und das wird auch das Vernünftige sein. Die Frage ist nur, wie eine solche Ordnung zustande kommen soll? Wenn bloß durch Vertrag, ist sie nicht ohne freiwillige Zustimmung verbindlich; wenn sie von "Gesetzes wegen" (d. h. von wegen des objektiven Rechts) verbindlich sein soll, wer statuiert dieses Recht? Es ist die dem Völkerrecht überhaupt innewohnende Un- vollkommenheit, auf die ich in meinem Vortrag "Die Unvollkommenheit des Völkerrechts" (Bern 1923) hingewiesen habe; vgl. unten S. 355 und auch oben S. 31 ff., betreffend die sachenrechtliche Ordnung. I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht. sie gefaßt ist, mehreren dasselbe Recht zuspricht. Wenn z. B.ein Gut als grundsätzlich herrenlos und dem ersten Okkupanten oder gar dem jeweiligen Okkupanten zugesprochen würde1, so könnte jeder mit gleichem Recht okkupieren und unter diesen Okkupierenden wäre keine Ordnung getroffen, weil das Gesetz ihnen allen gleicherweise das Gut zuerteilt. Das wird zwar im Landesrecht2 selten in dieser krassen Weise vorkommen, aber in weniger krasser Weise nicht so selten. Wenn das Gesetz z. B. die Quelle jedem zuspricht, der sich ihrer durch Graben und Abgraben bemächtigen kann, so ist das im kleinen dasselbe. Es ist den Worten nach eine Regelung; inhaltlich aber ist es widerspruchs- voll, weil das Recht schlechthin von dem tatsächlichen Verhalten, von der Willkür der Beteiligten, vom Zufall abhängig gemacht wird: da jeder durch solches Verhalten die Voraussetzung der Berechtigung setzen kann, kann auch jeder das Recht, das doch nur einem gehören kann, für sich in Anspruch nehmen, und jedes (subjektive) Recht kann beliebig vom anderen wieder in Frage gestellt werden; es besteht also keine feste Abgrenzung der Rechts- sphären. Praktisch kommt aber der eine wie der andere Fehler auf 1 Vgl. Stammler, Das Recht im staatlosen Gebiet, Abh. I, 371. 2 Im Völkerrecht ist nicht weit davon entfernt der Satz, daß das
offene Meer frei ist, d. h. von jedem gleicherweise genutzt werden kann; wenn der Grundsatz der Freiheit beschränkt wird auf diese Gleichheit, so kommt man notwendigerweise auf eine Konkurrenz von Ansprüchen, die sich widersprechen. Vernünftigerweise muß man also auch hier die Freiheit im positiven Sinne einer Freiheit in der Ordnung, einer vernünftigen Frei- heit auffassen, da das Recht nicht wohl eine andere gewährleisten kann. Man gerät dann allerdings in Widerspruch mit dem anderen Satz, daß das offene Meer res nullius sei; denn wenn alle Staaten nach einer festen Ord- nung berechtigt sind, das offene Meer zu nutzen und zu benutzen, so kann man nicht wohl anders als von einem condominium der Meere reden. Und das wird auch das Vernünftige sein. Die Frage ist nur, wie eine solche Ordnung zustande kommen soll? Wenn bloß durch Vertrag, ist sie nicht ohne freiwillige Zustimmung verbindlich; wenn sie von „Gesetzes wegen“ (d. h. von wegen des objektiven Rechts) verbindlich sein soll, wer statuiert dieses Recht? Es ist die dem Völkerrecht überhaupt innewohnende Un- vollkommenheit, auf die ich in meinem Vortrag „Die Unvollkommenheit des Völkerrechts“ (Bern 1923) hingewiesen habe; vgl. unten S. 355 und auch oben S. 31 ff., betreffend die sachenrechtliche Ordnung. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0125" n="110"/><fw place="top" type="header">I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht.</fw><lb/> sie gefaßt ist, mehreren dasselbe Recht zuspricht. Wenn z. B.<lb/> ein Gut als grundsätzlich herrenlos und dem <hi rendition="#g">ersten</hi> Okkupanten<lb/> oder gar dem <hi rendition="#g">jeweiligen</hi> Okkupanten zugesprochen würde<note place="foot" n="1">Vgl. <hi rendition="#g">Stammler,</hi> Das Recht im staatlosen Gebiet, Abh. I, 371.</note>, so<lb/> könnte jeder mit gleichem Recht okkupieren und unter diesen<lb/> Okkupierenden wäre keine Ordnung getroffen, weil das Gesetz<lb/> ihnen allen gleicherweise das Gut zuerteilt. Das wird zwar im<lb/> Landesrecht<note place="foot" n="2">Im Völkerrecht ist nicht weit davon entfernt der Satz, daß das<lb/> offene Meer frei ist, d. h. von jedem gleicherweise genutzt werden kann;<lb/> wenn der Grundsatz der Freiheit beschränkt wird auf diese Gleichheit, so<lb/> kommt man notwendigerweise auf eine Konkurrenz von Ansprüchen, die<lb/> sich widersprechen. Vernünftigerweise muß man also auch hier die Freiheit<lb/> im positiven Sinne einer Freiheit in der Ordnung, einer vernünftigen Frei-<lb/> heit auffassen, da das <hi rendition="#g">Recht</hi> nicht wohl eine andere gewährleisten kann.<lb/> Man gerät dann allerdings in Widerspruch mit dem anderen Satz, daß das<lb/> offene Meer res nullius sei; denn wenn alle Staaten nach einer festen Ord-<lb/> nung berechtigt sind, das offene Meer zu nutzen und zu benutzen, so kann<lb/> man nicht wohl anders als von einem condominium der Meere reden. Und<lb/> das wird auch das Vernünftige sein. Die Frage ist nur, wie eine solche<lb/> Ordnung zustande kommen soll? Wenn bloß durch Vertrag, ist sie nicht<lb/> ohne freiwillige Zustimmung verbindlich; wenn sie von „Gesetzes wegen“<lb/> (d. h. von wegen des objektiven Rechts) verbindlich sein soll, wer statuiert<lb/> dieses Recht? Es ist die dem Völkerrecht überhaupt innewohnende Un-<lb/> vollkommenheit, auf die ich in <hi rendition="#g">meinem</hi> Vortrag „Die Unvollkommenheit<lb/> des Völkerrechts“ (Bern 1923) hingewiesen habe; vgl. unten S. 355 und auch<lb/> oben S. 31 ff., betreffend die sachenrechtliche Ordnung.</note> selten in dieser krassen Weise vorkommen, aber in<lb/> weniger krasser Weise nicht so selten. Wenn das Gesetz z. B. die<lb/> Quelle jedem zuspricht, der sich ihrer durch Graben und Abgraben<lb/> bemächtigen kann, so ist das im kleinen dasselbe. Es ist den<lb/> Worten nach eine Regelung; inhaltlich aber ist es widerspruchs-<lb/> voll, weil das Recht schlechthin von dem tatsächlichen Verhalten,<lb/> von der Willkür der Beteiligten, vom Zufall abhängig gemacht<lb/> wird: da jeder durch solches Verhalten die Voraussetzung der<lb/> Berechtigung setzen kann, kann auch jeder das Recht, das doch<lb/> nur einem gehören kann, für sich in Anspruch nehmen, und jedes<lb/> (subjektive) Recht kann beliebig vom anderen wieder in Frage<lb/> gestellt werden; es besteht also keine feste Abgrenzung der Rechts-<lb/> sphären.</p><lb/> <p>Praktisch kommt aber der eine wie der andere Fehler auf<lb/> dasselbe hinaus: ob das Gesetz keinem von zwei (oder mehreren)<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [110/0125]
I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht.
sie gefaßt ist, mehreren dasselbe Recht zuspricht. Wenn z. B.
ein Gut als grundsätzlich herrenlos und dem ersten Okkupanten
oder gar dem jeweiligen Okkupanten zugesprochen würde 1, so
könnte jeder mit gleichem Recht okkupieren und unter diesen
Okkupierenden wäre keine Ordnung getroffen, weil das Gesetz
ihnen allen gleicherweise das Gut zuerteilt. Das wird zwar im
Landesrecht 2 selten in dieser krassen Weise vorkommen, aber in
weniger krasser Weise nicht so selten. Wenn das Gesetz z. B. die
Quelle jedem zuspricht, der sich ihrer durch Graben und Abgraben
bemächtigen kann, so ist das im kleinen dasselbe. Es ist den
Worten nach eine Regelung; inhaltlich aber ist es widerspruchs-
voll, weil das Recht schlechthin von dem tatsächlichen Verhalten,
von der Willkür der Beteiligten, vom Zufall abhängig gemacht
wird: da jeder durch solches Verhalten die Voraussetzung der
Berechtigung setzen kann, kann auch jeder das Recht, das doch
nur einem gehören kann, für sich in Anspruch nehmen, und jedes
(subjektive) Recht kann beliebig vom anderen wieder in Frage
gestellt werden; es besteht also keine feste Abgrenzung der Rechts-
sphären.
Praktisch kommt aber der eine wie der andere Fehler auf
dasselbe hinaus: ob das Gesetz keinem von zwei (oder mehreren)
1 Vgl. Stammler, Das Recht im staatlosen Gebiet, Abh. I, 371.
2 Im Völkerrecht ist nicht weit davon entfernt der Satz, daß das
offene Meer frei ist, d. h. von jedem gleicherweise genutzt werden kann;
wenn der Grundsatz der Freiheit beschränkt wird auf diese Gleichheit, so
kommt man notwendigerweise auf eine Konkurrenz von Ansprüchen, die
sich widersprechen. Vernünftigerweise muß man also auch hier die Freiheit
im positiven Sinne einer Freiheit in der Ordnung, einer vernünftigen Frei-
heit auffassen, da das Recht nicht wohl eine andere gewährleisten kann.
Man gerät dann allerdings in Widerspruch mit dem anderen Satz, daß das
offene Meer res nullius sei; denn wenn alle Staaten nach einer festen Ord-
nung berechtigt sind, das offene Meer zu nutzen und zu benutzen, so kann
man nicht wohl anders als von einem condominium der Meere reden. Und
das wird auch das Vernünftige sein. Die Frage ist nur, wie eine solche
Ordnung zustande kommen soll? Wenn bloß durch Vertrag, ist sie nicht
ohne freiwillige Zustimmung verbindlich; wenn sie von „Gesetzes wegen“
(d. h. von wegen des objektiven Rechts) verbindlich sein soll, wer statuiert
dieses Recht? Es ist die dem Völkerrecht überhaupt innewohnende Un-
vollkommenheit, auf die ich in meinem Vortrag „Die Unvollkommenheit
des Völkerrechts“ (Bern 1923) hingewiesen habe; vgl. unten S. 355 und auch
oben S. 31 ff., betreffend die sachenrechtliche Ordnung.
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