I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht.
2. Daß es im Privatrecht echte Lücken geben kann, nicht aber im öffentlichen Recht1, ist aus der Eigenart dieser beiden Rechtsgebiete einzusehen. Warum muß aber der Richter, die rechtsanwendende Behörde, diese Lücke ausfüllen? Weil er richten muß kraft öffentlichen Rechts. Auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts hat die Behörde nur das gegebene Recht anzuwenden; ihre Pflicht, zu entscheiden oder zu verfügen, reicht gerade so weit, wie das gesetzliche (materielle) Recht reicht. Der Richter kann nur strafen, wo das Gesetz eine Strafe vorsieht; die Ver- waltungsbehörde nur besteuern, soweit eine gesetzliche Steuer- pflicht besteht, und nur verbieten, was im Gesetze verboten ist. Besteht die Behörde nicht auf der Anwendung des Gesetzes, so kann niemand anders es dem angeblich Verpflichteten gegenüber wirksam geltend machen; und wendet sie es an, so ist über die Anwendung dieser Norm auch maßgebend entschieden. Wie sie sich also auch verhalte, dem Verhalten der zuständigen Behörde gegenüber bleibt, rechtlich, nichts unsicher und bestreitbar. Ge- rade den Streit der Beteiligten aber hat der Richter im Privatrecht zu entscheiden. Welches Rechtsverhältnis unter den Parteien schließlich als das verbindliche, zu Recht bestehende, anerkannt werde, ist dem öffentlichen Rechte Nebensache; das öffentliche Interesse wird dadurch nicht berührt. Das Rechtsverhältnis kann ja durch die Parteien selbst in willkürlicher Weise bestimmt werden. Wie entschieden wird, ist also hier nicht die Hauptsache, sondern daß entschieden werde (vgl. oben S. 64 ff.). Die Aufgabe der Justiz ist, unter den gleichgestellten Parteien, welche sonst zu keiner Entscheidung kämen, Recht und Frieden wiederherzu- stellen. Der Staat, der Wahrer des Rechts und des Friedens, kann hier keine Frage unentschieden lassen, ohne der Anarchie die Tore zu öffnen; und ob eine Frage der Entscheidung bedürfe, hängt eben allein davon ab, ob sie unter den beteiligten Privaten, den einzigen, die daran beteiligt sind, streitig ist. Die Norm, die der Zivilrichter vor allen anzuwenden hat, ist die, daß alle privat- rechtlichen Streitigkeiten zu entscheiden sind. Der Staat müßte sonst der Privatgewalt den Vorrang lassen, da er keinem der Strei- tenden, die ihre Ansprüche gewaltsam durchsetzen, die Berech-
1 Nämlich im Verhaltungsrecht, auf den sich dieser Gegensatz eigent- lich bezieht; vgl. oben S. 19.
I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht.
2. Daß es im Privatrecht echte Lücken geben kann, nicht aber im öffentlichen Recht1, ist aus der Eigenart dieser beiden Rechtsgebiete einzusehen. Warum muß aber der Richter, die rechtsanwendende Behörde, diese Lücke ausfüllen? Weil er richten muß kraft öffentlichen Rechts. Auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts hat die Behörde nur das gegebene Recht anzuwenden; ihre Pflicht, zu entscheiden oder zu verfügen, reicht gerade so weit, wie das gesetzliche (materielle) Recht reicht. Der Richter kann nur strafen, wo das Gesetz eine Strafe vorsieht; die Ver- waltungsbehörde nur besteuern, soweit eine gesetzliche Steuer- pflicht besteht, und nur verbieten, was im Gesetze verboten ist. Besteht die Behörde nicht auf der Anwendung des Gesetzes, so kann niemand anders es dem angeblich Verpflichteten gegenüber wirksam geltend machen; und wendet sie es an, so ist über die Anwendung dieser Norm auch maßgebend entschieden. Wie sie sich also auch verhalte, dem Verhalten der zuständigen Behörde gegenüber bleibt, rechtlich, nichts unsicher und bestreitbar. Ge- rade den Streit der Beteiligten aber hat der Richter im Privatrecht zu entscheiden. Welches Rechtsverhältnis unter den Parteien schließlich als das verbindliche, zu Recht bestehende, anerkannt werde, ist dem öffentlichen Rechte Nebensache; das öffentliche Interesse wird dadurch nicht berührt. Das Rechtsverhältnis kann ja durch die Parteien selbst in willkürlicher Weise bestimmt werden. Wie entschieden wird, ist also hier nicht die Hauptsache, sondern daß entschieden werde (vgl. oben S. 64 ff.). Die Aufgabe der Justiz ist, unter den gleichgestellten Parteien, welche sonst zu keiner Entscheidung kämen, Recht und Frieden wiederherzu- stellen. Der Staat, der Wahrer des Rechts und des Friedens, kann hier keine Frage unentschieden lassen, ohne der Anarchie die Tore zu öffnen; und ob eine Frage der Entscheidung bedürfe, hängt eben allein davon ab, ob sie unter den beteiligten Privaten, den einzigen, die daran beteiligt sind, streitig ist. Die Norm, die der Zivilrichter vor allen anzuwenden hat, ist die, daß alle privat- rechtlichen Streitigkeiten zu entscheiden sind. Der Staat müßte sonst der Privatgewalt den Vorrang lassen, da er keinem der Strei- tenden, die ihre Ansprüche gewaltsam durchsetzen, die Berech-
1 Nämlich im Verhaltungsrecht, auf den sich dieser Gegensatz eigent- lich bezieht; vgl. oben S. 19.
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I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht.
2. Daß es im Privatrecht echte Lücken geben kann, nicht
aber im öffentlichen Recht 1, ist aus der Eigenart dieser beiden
Rechtsgebiete einzusehen. Warum muß aber der Richter, die
rechtsanwendende Behörde, diese Lücke ausfüllen? Weil er richten
muß kraft öffentlichen Rechts. Auf dem Gebiet des öffentlichen
Rechts hat die Behörde nur das gegebene Recht anzuwenden;
ihre Pflicht, zu entscheiden oder zu verfügen, reicht gerade so
weit, wie das gesetzliche (materielle) Recht reicht. Der Richter
kann nur strafen, wo das Gesetz eine Strafe vorsieht; die Ver-
waltungsbehörde nur besteuern, soweit eine gesetzliche Steuer-
pflicht besteht, und nur verbieten, was im Gesetze verboten ist.
Besteht die Behörde nicht auf der Anwendung des Gesetzes, so
kann niemand anders es dem angeblich Verpflichteten gegenüber
wirksam geltend machen; und wendet sie es an, so ist über die
Anwendung dieser Norm auch maßgebend entschieden. Wie sie
sich also auch verhalte, dem Verhalten der zuständigen Behörde
gegenüber bleibt, rechtlich, nichts unsicher und bestreitbar. Ge-
rade den Streit der Beteiligten aber hat der Richter im Privatrecht
zu entscheiden. Welches Rechtsverhältnis unter den Parteien
schließlich als das verbindliche, zu Recht bestehende, anerkannt
werde, ist dem öffentlichen Rechte Nebensache; das öffentliche
Interesse wird dadurch nicht berührt. Das Rechtsverhältnis
kann ja durch die Parteien selbst in willkürlicher Weise bestimmt
werden. Wie entschieden wird, ist also hier nicht die Hauptsache,
sondern daß entschieden werde (vgl. oben S. 64 ff.). Die Aufgabe
der Justiz ist, unter den gleichgestellten Parteien, welche sonst
zu keiner Entscheidung kämen, Recht und Frieden wiederherzu-
stellen. Der Staat, der Wahrer des Rechts und des Friedens,
kann hier keine Frage unentschieden lassen, ohne der Anarchie die
Tore zu öffnen; und ob eine Frage der Entscheidung bedürfe,
hängt eben allein davon ab, ob sie unter den beteiligten Privaten,
den einzigen, die daran beteiligt sind, streitig ist. Die Norm, die
der Zivilrichter vor allen anzuwenden hat, ist die, daß alle privat-
rechtlichen Streitigkeiten zu entscheiden sind. Der Staat müßte
sonst der Privatgewalt den Vorrang lassen, da er keinem der Strei-
tenden, die ihre Ansprüche gewaltsam durchsetzen, die Berech-
1 Nämlich im Verhaltungsrecht, auf den sich dieser Gegensatz eigent-
lich bezieht; vgl. oben S. 19.
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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/129>, abgerufen am 24.11.2024.
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