Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Organisation im Rechtssinne.
nur deshalb organisiert, weil ihre Rechtsordnung eine solche Zu-
ständigkeitsordnung enthält. Man versteht unter Organisation,
wie oben (S. 123) bemerkt, noch eine weitere Annäherung der
abstrakten Rechtsordnung an das Konkrete: Organisation be-
zeichnet oft nicht nur die Einrichtung in ihrer rechtssatzmäßigen
Ausgestaltung, von der wir soeben gesprochen (die Verfassung),
sondern auch die durch Menschen gehandhabte, verkörperte, ak-
tionsfähig gemachte Zuständigkeitsordnung. Die Tatsache, daß
bestimmte, konkrete Menschen, gemäß einer solchen Ordnung be-
rufen worden sind, das materielle Recht zu verwirklichen (und
evtl. zu ändern), und diese Zuständigkeiten auch wirklich aus-
üben, macht in diesem Sinne die Organisation der Gemeinschaft
aus. Organisiert ist dann ein Volk, das nicht nur eine Verfassung,
d. h. Verfassungsnormen, hat, sondern auch Behörden, besetzte
Ämter und Amtspersonen, die jene verfassungsmäßigen Zuständig-
keiten ausüben. Ein Volk, das wohl eine Verfassung hat, aber
nicht imstande ist, sich die verfassungsmäßigen Behörden zu
bestellen, wie es z. B. in der Schweiz zur Zeit der Helvetik aus
Mißmut und Uneinigkeit mehrfach vorkam, hat keine Organisation
mehr in diesem besonderen Sinn; ja, man kann mit Fug fragen,
ob es noch eine Verfassung habe, eine Verfassung nämlich, die
wirklich gilt (vgl. unten S. 171 ff.). Darin liegt das tatsächliche
Element der "Geltung" des Rechts und einer bestehenden Orga-
nisation. Weshalb man mit Grund von der Tatsache spricht,
daß eine Rechtsordnung gilt oder gegolten hat, und von der Tat-
sache,
daß eine genossenschaftliche, kommunale oder staatliche
Organisation oder, mit anderen Worten, eine Genossenschaft, eine
Gemeinde oder ein Staat besteht oder bestanden hat. Der Begriff
der Genossenschaft, der Gemeinde, des Staates ist zweifellos ein
rechtlicher, kein tatsächlicher1; und der Begriff der Rechts-
norm ist gänzlich unabhängig von der Tatsache, daß sie jemand
verwirklichen wolle und ihr vielleicht dadurch Geltung verschaffe2.

1 Deshalb auch kein soziologischer, i. S. eines psychologischen, völker-
psychologischen, biologischen oder dgl.; vgl. Kelsen, Vom soziologischen
und vom rechtlichen Staatsbegriff (Tübingen 1922).
2 Man darf die Norm selbstverständlich nicht mit dem "okkasionellen"
Willensausdruck ihres Urhebers, einer historischen Tatsache, verwechseln;
Felix Kaufmann, Logik und Rechtswissenschaft (1922) 79.

Die Organisation im Rechtssinne.
nur deshalb organisiert, weil ihre Rechtsordnung eine solche Zu-
ständigkeitsordnung enthält. Man versteht unter Organisation,
wie oben (S. 123) bemerkt, noch eine weitere Annäherung der
abstrakten Rechtsordnung an das Konkrete: Organisation be-
zeichnet oft nicht nur die Einrichtung in ihrer rechtssatzmäßigen
Ausgestaltung, von der wir soeben gesprochen (die Verfassung),
sondern auch die durch Menschen gehandhabte, verkörperte, ak-
tionsfähig gemachte Zuständigkeitsordnung. Die Tatsache, daß
bestimmte, konkrete Menschen, gemäß einer solchen Ordnung be-
rufen worden sind, das materielle Recht zu verwirklichen (und
evtl. zu ändern), und diese Zuständigkeiten auch wirklich aus-
üben, macht in diesem Sinne die Organisation der Gemeinschaft
aus. Organisiert ist dann ein Volk, das nicht nur eine Verfassung,
d. h. Verfassungsnormen, hat, sondern auch Behörden, besetzte
Ämter und Amtspersonen, die jene verfassungsmäßigen Zuständig-
keiten ausüben. Ein Volk, das wohl eine Verfassung hat, aber
nicht imstande ist, sich die verfassungsmäßigen Behörden zu
bestellen, wie es z. B. in der Schweiz zur Zeit der Helvetik aus
Mißmut und Uneinigkeit mehrfach vorkam, hat keine Organisation
mehr in diesem besonderen Sinn; ja, man kann mit Fug fragen,
ob es noch eine Verfassung habe, eine Verfassung nämlich, die
wirklich gilt (vgl. unten S. 171 ff.). Darin liegt das tatsächliche
Element der „Geltung“ des Rechts und einer bestehenden Orga-
nisation. Weshalb man mit Grund von der Tatsache spricht,
daß eine Rechtsordnung gilt oder gegolten hat, und von der Tat-
sache,
daß eine genossenschaftliche, kommunale oder staatliche
Organisation oder, mit anderen Worten, eine Genossenschaft, eine
Gemeinde oder ein Staat besteht oder bestanden hat. Der Begriff
der Genossenschaft, der Gemeinde, des Staates ist zweifellos ein
rechtlicher, kein tatsächlicher1; und der Begriff der Rechts-
norm ist gänzlich unabhängig von der Tatsache, daß sie jemand
verwirklichen wolle und ihr vielleicht dadurch Geltung verschaffe2.

1 Deshalb auch kein soziologischer, i. S. eines psychologischen, völker-
psychologischen, biologischen oder dgl.; vgl. Kelsen, Vom soziologischen
und vom rechtlichen Staatsbegriff (Tübingen 1922).
2 Man darf die Norm selbstverständlich nicht mit dem „okkasionellen“
Willensausdruck ihres Urhebers, einer historischen Tatsache, verwechseln;
Felix Kaufmann, Logik und Rechtswissenschaft (1922) 79.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0142" n="127"/><fw place="top" type="header">Die Organisation im Rechtssinne.</fw><lb/>
nur deshalb organisiert, weil ihre Rechtsordnung eine solche Zu-<lb/>
ständigkeitsordnung enthält. Man versteht unter Organisation,<lb/>
wie oben (S. 123) bemerkt, noch eine weitere Annäherung der<lb/>
abstrakten Rechtsordnung an das Konkrete: Organisation be-<lb/>
zeichnet oft nicht nur die Einrichtung in ihrer rechtssatzmäßigen<lb/>
Ausgestaltung, von der wir soeben gesprochen (die Verfassung),<lb/>
sondern auch die <hi rendition="#b">durch Menschen gehandhabte,</hi> verkörperte, ak-<lb/>
tionsfähig gemachte <hi rendition="#b">Zuständigkeitsordnung.</hi> Die Tatsache, daß<lb/>
bestimmte, konkrete Menschen, gemäß einer solchen Ordnung be-<lb/>
rufen worden sind, das materielle Recht zu verwirklichen (und<lb/>
evtl. zu ändern), und diese Zuständigkeiten auch wirklich aus-<lb/>
üben, macht in diesem Sinne die Organisation der Gemeinschaft<lb/>
aus. Organisiert ist dann ein Volk, das nicht nur eine Verfassung,<lb/>
d. h. Verfassungsnormen, hat, sondern auch Behörden, besetzte<lb/>
Ämter und Amtspersonen, die jene verfassungsmäßigen Zuständig-<lb/>
keiten ausüben. Ein Volk, das wohl eine Verfassung hat, aber<lb/>
nicht imstande ist, sich die verfassungsmäßigen Behörden zu<lb/>
bestellen, wie es z. B. in der Schweiz zur Zeit der Helvetik aus<lb/>
Mißmut und Uneinigkeit mehrfach vorkam, hat keine Organisation<lb/>
mehr in diesem besonderen Sinn; ja, man kann mit Fug fragen,<lb/>
ob es noch eine Verfassung habe, eine Verfassung nämlich, die<lb/>
wirklich gilt (vgl. unten S. 171 ff.). Darin liegt das tatsächliche<lb/>
Element der &#x201E;Geltung&#x201C; des Rechts und einer bestehenden Orga-<lb/>
nisation. Weshalb man mit Grund von der <hi rendition="#g">Tatsache</hi> spricht,<lb/>
daß eine Rechtsordnung gilt oder gegolten hat, und von der <hi rendition="#g">Tat-<lb/>
sache,</hi> daß eine genossenschaftliche, kommunale oder staatliche<lb/>
Organisation oder, mit anderen Worten, eine Genossenschaft, eine<lb/>
Gemeinde oder ein Staat besteht oder bestanden hat. Der <hi rendition="#g">Begriff</hi><lb/>
der Genossenschaft, der Gemeinde, des Staates ist zweifellos ein<lb/>
rechtlicher, kein tatsächlicher<note place="foot" n="1">Deshalb auch kein soziologischer, i. S. eines psychologischen, völker-<lb/>
psychologischen, biologischen oder dgl.; vgl. <hi rendition="#g">Kelsen,</hi> Vom soziologischen<lb/>
und vom rechtlichen Staatsbegriff (Tübingen 1922).</note>; und der <hi rendition="#g">Begriff</hi> der Rechts-<lb/>
norm ist gänzlich unabhängig von der Tatsache, daß sie jemand<lb/>
verwirklichen wolle und ihr vielleicht dadurch Geltung verschaffe<note place="foot" n="2">Man darf die Norm selbstverständlich nicht mit dem &#x201E;okkasionellen&#x201C;<lb/>
Willensausdruck ihres Urhebers, einer historischen Tatsache, verwechseln;<lb/><hi rendition="#g">Felix Kaufmann,</hi> Logik und Rechtswissenschaft (1922) 79.</note>.<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[127/0142] Die Organisation im Rechtssinne. nur deshalb organisiert, weil ihre Rechtsordnung eine solche Zu- ständigkeitsordnung enthält. Man versteht unter Organisation, wie oben (S. 123) bemerkt, noch eine weitere Annäherung der abstrakten Rechtsordnung an das Konkrete: Organisation be- zeichnet oft nicht nur die Einrichtung in ihrer rechtssatzmäßigen Ausgestaltung, von der wir soeben gesprochen (die Verfassung), sondern auch die durch Menschen gehandhabte, verkörperte, ak- tionsfähig gemachte Zuständigkeitsordnung. Die Tatsache, daß bestimmte, konkrete Menschen, gemäß einer solchen Ordnung be- rufen worden sind, das materielle Recht zu verwirklichen (und evtl. zu ändern), und diese Zuständigkeiten auch wirklich aus- üben, macht in diesem Sinne die Organisation der Gemeinschaft aus. Organisiert ist dann ein Volk, das nicht nur eine Verfassung, d. h. Verfassungsnormen, hat, sondern auch Behörden, besetzte Ämter und Amtspersonen, die jene verfassungsmäßigen Zuständig- keiten ausüben. Ein Volk, das wohl eine Verfassung hat, aber nicht imstande ist, sich die verfassungsmäßigen Behörden zu bestellen, wie es z. B. in der Schweiz zur Zeit der Helvetik aus Mißmut und Uneinigkeit mehrfach vorkam, hat keine Organisation mehr in diesem besonderen Sinn; ja, man kann mit Fug fragen, ob es noch eine Verfassung habe, eine Verfassung nämlich, die wirklich gilt (vgl. unten S. 171 ff.). Darin liegt das tatsächliche Element der „Geltung“ des Rechts und einer bestehenden Orga- nisation. Weshalb man mit Grund von der Tatsache spricht, daß eine Rechtsordnung gilt oder gegolten hat, und von der Tat- sache, daß eine genossenschaftliche, kommunale oder staatliche Organisation oder, mit anderen Worten, eine Genossenschaft, eine Gemeinde oder ein Staat besteht oder bestanden hat. Der Begriff der Genossenschaft, der Gemeinde, des Staates ist zweifellos ein rechtlicher, kein tatsächlicher 1; und der Begriff der Rechts- norm ist gänzlich unabhängig von der Tatsache, daß sie jemand verwirklichen wolle und ihr vielleicht dadurch Geltung verschaffe 2. 1 Deshalb auch kein soziologischer, i. S. eines psychologischen, völker- psychologischen, biologischen oder dgl.; vgl. Kelsen, Vom soziologischen und vom rechtlichen Staatsbegriff (Tübingen 1922). 2 Man darf die Norm selbstverständlich nicht mit dem „okkasionellen“ Willensausdruck ihres Urhebers, einer historischen Tatsache, verwechseln; Felix Kaufmann, Logik und Rechtswissenschaft (1922) 79.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/142
Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/142>, abgerufen am 18.12.2024.