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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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II. Teil. Die staatliche Verfassung.
tatsächlich gelte, jetzt oder später, ist eine andere Frage1. Es
ist offenbar, im Verhältnis zur rationellen, (der Vernunft aufge-
gebenen) Frage, was gelten solle, eine Tatfrage, d. h. eine von
Vernunfterwägungen unabhängige Frage; eine Frage also, deren
Beantwortung nicht von Gründen, sondern von einem tatsäch-
lichen, zufälligen Umstande abhängt2.

Dieser Umstand ist die Macht. Aber wohlverstanden: die
Macht ist nicht das Recht; sie allein bewirkt auch nicht, daß
etwas Recht sei; aber sie muß zu der gedachten Rechtsnorm hin-
zukommen, um aus dem Gedanken eine Wirklichkeit zu machen,
damit das gedachte Recht gelte3. Und sie muß, umgekehrt, sich
in den Dienst eines Rechtsgedankens stellen, um zu bewirken,
daß Recht gelte, um ihrerseits, wie man sagt, eine Rechtsmacht,
nicht rohe Gewalt zu sein. Das bedarf noch weiterer Ausführung.

Das Recht kann (wie schon oben S. 124 bemerkt) nicht
grundsätzlich auf den Zwang verzichten. Eine Rechtsordnung,
welche grundsätzlich davon absähe, ihre Vorschriften zu er-
zwingen, welche gar nicht wollte erzwungen werden, wäre keine
Rechtsordnung. Denn sie würde auf die ungezwungene, freiwillige
Befolgung ihrer Vorschriften rechnen; möglicherweise würden
nun in der Tat alle Rechtsgenossen in übereinstimmender Einsicht
und Pflichttreue die Gebote dieses Rechtes befolgen. Allein mit

1 Das übersieht Binder, Philosophie des Rechts 768, 927, wenn er
erklärt: "Geltungsgrund des Rechts ist allein die Vernunft." Daß über-
haupt ein Recht gelten muß, lehrt die Vernunft, und ebenso, welches gelten
sollte; aber welches wirklich gelte, entscheidet nicht die Vernunft. Vgl.
Stahl, Philosophie des Rechts II 220.
2 Vgl. Pitamic in der Zeitschrift für öffentliches Recht 3 540;
Intern. Zeitschrift für Rechtstheorie I 49. Insofern ist die Kritik Roffen-
steins
gegen Kelsen richtig, daß der Staat mehr als ein bloßes Norm-
system sei; vgl. Zeitschrift für öffentliches Recht 4 551. Gerh. Husserl,
Rechtskraft und Rechtsgeltung (Berlin 1925) 6 ff. "Die Faktizität ist ein
Begriffselement der Posivität", sagt J. Marck, Der Substanzbegriff und
der Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie (1925) 30; ähnlich Sturm,
Der Kampf des Gesetzes mit der Rechtsgewohnheit (1877) 40.
3 Vgl. Moor, Macht, Recht, Moral (1922) 12; Ad. Menzel in der
Zeitschrift für öffentliches Recht 5 17; Fries a. a. O. 80; A. v. Hagens,
Staat, Recht und Völkerrecht (1890) 12--13; Green, Lectures on the
principles of political obligation (Neudruck 1924) 136; Erich Kaufmann,
Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie (1921) 69.

II. Teil. Die staatliche Verfassung.
tatsächlich gelte, jetzt oder später, ist eine andere Frage1. Es
ist offenbar, im Verhältnis zur rationellen, (der Vernunft aufge-
gebenen) Frage, was gelten solle, eine Tatfrage, d. h. eine von
Vernunfterwägungen unabhängige Frage; eine Frage also, deren
Beantwortung nicht von Gründen, sondern von einem tatsäch-
lichen, zufälligen Umstande abhängt2.

Dieser Umstand ist die Macht. Aber wohlverstanden: die
Macht ist nicht das Recht; sie allein bewirkt auch nicht, daß
etwas Recht sei; aber sie muß zu der gedachten Rechtsnorm hin-
zukommen, um aus dem Gedanken eine Wirklichkeit zu machen,
damit das gedachte Recht gelte3. Und sie muß, umgekehrt, sich
in den Dienst eines Rechtsgedankens stellen, um zu bewirken,
daß Recht gelte, um ihrerseits, wie man sagt, eine Rechtsmacht,
nicht rohe Gewalt zu sein. Das bedarf noch weiterer Ausführung.

Das Recht kann (wie schon oben S. 124 bemerkt) nicht
grundsätzlich auf den Zwang verzichten. Eine Rechtsordnung,
welche grundsätzlich davon absähe, ihre Vorschriften zu er-
zwingen, welche gar nicht wollte erzwungen werden, wäre keine
Rechtsordnung. Denn sie würde auf die ungezwungene, freiwillige
Befolgung ihrer Vorschriften rechnen; möglicherweise würden
nun in der Tat alle Rechtsgenossen in übereinstimmender Einsicht
und Pflichttreue die Gebote dieses Rechtes befolgen. Allein mit

1 Das übersieht Binder, Philosophie des Rechts 768, 927, wenn er
erklärt: „Geltungsgrund des Rechts ist allein die Vernunft.“ Daß über-
haupt ein Recht gelten muß, lehrt die Vernunft, und ebenso, welches gelten
sollte; aber welches wirklich gelte, entscheidet nicht die Vernunft. Vgl.
Stahl, Philosophie des Rechts II 220.
2 Vgl. Pitamic in der Zeitschrift für öffentliches Recht 3 540;
Intern. Zeitschrift für Rechtstheorie I 49. Insofern ist die Kritik Roffen-
steins
gegen Kelsen richtig, daß der Staat mehr als ein bloßes Norm-
system sei; vgl. Zeitschrift für öffentliches Recht 4 551. Gerh. Husserl,
Rechtskraft und Rechtsgeltung (Berlin 1925) 6 ff. „Die Faktizität ist ein
Begriffselement der Posivität“, sagt J. Marck, Der Substanzbegriff und
der Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie (1925) 30; ähnlich Sturm,
Der Kampf des Gesetzes mit der Rechtsgewohnheit (1877) 40.
3 Vgl. Moòr, Macht, Recht, Moral (1922) 12; Ad. Menzel in der
Zeitschrift für öffentliches Recht 5 17; Fries a. a. O. 80; A. v. Hagens,
Staat, Recht und Völkerrecht (1890) 12—13; Green, Lectures on the
principles of political obligation (Neudruck 1924) 136; Erich Kaufmann,
Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie (1921) 69.
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[172/0187] II. Teil. Die staatliche Verfassung. tatsächlich gelte, jetzt oder später, ist eine andere Frage 1. Es ist offenbar, im Verhältnis zur rationellen, (der Vernunft aufge- gebenen) Frage, was gelten solle, eine Tatfrage, d. h. eine von Vernunfterwägungen unabhängige Frage; eine Frage also, deren Beantwortung nicht von Gründen, sondern von einem tatsäch- lichen, zufälligen Umstande abhängt 2. Dieser Umstand ist die Macht. Aber wohlverstanden: die Macht ist nicht das Recht; sie allein bewirkt auch nicht, daß etwas Recht sei; aber sie muß zu der gedachten Rechtsnorm hin- zukommen, um aus dem Gedanken eine Wirklichkeit zu machen, damit das gedachte Recht gelte 3. Und sie muß, umgekehrt, sich in den Dienst eines Rechtsgedankens stellen, um zu bewirken, daß Recht gelte, um ihrerseits, wie man sagt, eine Rechtsmacht, nicht rohe Gewalt zu sein. Das bedarf noch weiterer Ausführung. Das Recht kann (wie schon oben S. 124 bemerkt) nicht grundsätzlich auf den Zwang verzichten. Eine Rechtsordnung, welche grundsätzlich davon absähe, ihre Vorschriften zu er- zwingen, welche gar nicht wollte erzwungen werden, wäre keine Rechtsordnung. Denn sie würde auf die ungezwungene, freiwillige Befolgung ihrer Vorschriften rechnen; möglicherweise würden nun in der Tat alle Rechtsgenossen in übereinstimmender Einsicht und Pflichttreue die Gebote dieses Rechtes befolgen. Allein mit 1 Das übersieht Binder, Philosophie des Rechts 768, 927, wenn er erklärt: „Geltungsgrund des Rechts ist allein die Vernunft.“ Daß über- haupt ein Recht gelten muß, lehrt die Vernunft, und ebenso, welches gelten sollte; aber welches wirklich gelte, entscheidet nicht die Vernunft. Vgl. Stahl, Philosophie des Rechts II 220. 2 Vgl. Pitamic in der Zeitschrift für öffentliches Recht 3 540; Intern. Zeitschrift für Rechtstheorie I 49. Insofern ist die Kritik Roffen- steins gegen Kelsen richtig, daß der Staat mehr als ein bloßes Norm- system sei; vgl. Zeitschrift für öffentliches Recht 4 551. Gerh. Husserl, Rechtskraft und Rechtsgeltung (Berlin 1925) 6 ff. „Die Faktizität ist ein Begriffselement der Posivität“, sagt J. Marck, Der Substanzbegriff und der Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie (1925) 30; ähnlich Sturm, Der Kampf des Gesetzes mit der Rechtsgewohnheit (1877) 40. 3 Vgl. Moòr, Macht, Recht, Moral (1922) 12; Ad. Menzel in der Zeitschrift für öffentliches Recht 5 17; Fries a. a. O. 80; A. v. Hagens, Staat, Recht und Völkerrecht (1890) 12—13; Green, Lectures on the principles of political obligation (Neudruck 1924) 136; Erich Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie (1921) 69.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/187>, abgerufen am 25.11.2024.