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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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II. Teil. Die staatliche Verfassung.

Enthält diese Auffassung nicht einen gefährlichen Appell an
die Gewalt? Wenn die machthabende Ordnung Anspruch auf
Geltung hat und Gehorsam fordern kann, was hindert die Gegner
einer geltenden (auch einer gerechten) Ordnung, es mit der Ge-
walt zu versuchen, um ihrer Ordnung die Geltung zu verschaffen?
Mit dem Augenblick, in dem sie die Übermacht erhält, wird die
neue Ordnung ja auch verbindlich und die bisherige unverbind-
lich1. "... et puisque le plus fort", sagte Rousseau (Contrat
social, 1. Buch, 3. Kap.), "a toujours raison, il ne s'agit que de
faire en sorte qu'on soit le plus fort."2

Geben wir aber zu, daß die Vernunft entscheiden soll, wie
soll das geschehen? Wir setzen ja voraus, es gebe noch keine
anerkannte Organisation der Rechtssetzung, keinen anerkannt zu-
ständigen Gesetzgeber; denn wenn diese Zuständigkeit anerkannt
wäre, müßte auch seine Entscheidung anerkannt werden. Gibt
es aber keinen anerkannten Gesetzgeber, wer soll darüber ent-
scheiden, was vernünftig und gerecht ist und was nicht? Es ist
möglich, daß alle Einzelnen, die die staatliche Gemeinschaft
bilden wollen, darüber einig sind; aber das ist ein glücklicher Zu-
fall, mit dem man nicht rechnen darf und der auch jeden Augenblick
wieder aufhören kann3. Wir nehmen an (oben S. 165), daß alle
irgend eine Rechtsordnung wollen; sie sind aber uneinig darüber,
welche. Die beste (von den vorgeschlagenen) gelten zu lassen,
ist keine Lösung, weil das ja eben die Streitfrage ist, welches die
beste, die richtige sei4. Man muß also offenbar diesen nach sachlichen
Erwägungen unlösbaren sachlichen Streit (der die Voraussetzung
unseres Problemes bildet) nach einem anderen Kriterium als nach

1 Vgl. Sauer, Grundlagen der Gesellschaft (1924) 429.
2 Eine treffliche Kritik dieser und auch anderer Lehren enthält Brie,
Die Legitimation einer usurpierten Staatsgewalt (1866) 26ff. Die älteren
Lehren bei Held, Über Legitimität, Legitimitätsprinzip (Würzburg 1859).
Man entgeht dieser Schwierigkeit auch nicht, indem man erklärt, es solle
nicht eine Macht entscheiden, sondern das Gleichgewicht der sozialen
Mächte. Vgl. bei Carre de Malberg I 199: auch die best ausbalancierte
Macht ist keine Rechtfertigung.
3 Wie z. B. Menzel in Zeitschrift für öffentliches Recht V 9 bemerkt.
4 Diese Schwierigkeit wird gewöhnlich nicht genügend gewürdigt;
vgl. z. B. Schuppe, Gewohnheitsrecht 35 ff., 60 f.; Nelson, System der
philosophischen Rechtslehre (1920) 61.
II. Teil. Die staatliche Verfassung.

Enthält diese Auffassung nicht einen gefährlichen Appell an
die Gewalt? Wenn die machthabende Ordnung Anspruch auf
Geltung hat und Gehorsam fordern kann, was hindert die Gegner
einer geltenden (auch einer gerechten) Ordnung, es mit der Ge-
walt zu versuchen, um ihrer Ordnung die Geltung zu verschaffen?
Mit dem Augenblick, in dem sie die Übermacht erhält, wird die
neue Ordnung ja auch verbindlich und die bisherige unverbind-
lich1. „... et puisque le plus fort“, sagte Rousseau (Contrat
social, 1. Buch, 3. Kap.), „a toujours raison, il ne s'agit que de
faire en sorte qu'on soit le plus fort.“2

Geben wir aber zu, daß die Vernunft entscheiden soll, wie
soll das geschehen? Wir setzen ja voraus, es gebe noch keine
anerkannte Organisation der Rechtssetzung, keinen anerkannt zu-
ständigen Gesetzgeber; denn wenn diese Zuständigkeit anerkannt
wäre, müßte auch seine Entscheidung anerkannt werden. Gibt
es aber keinen anerkannten Gesetzgeber, wer soll darüber ent-
scheiden, was vernünftig und gerecht ist und was nicht? Es ist
möglich, daß alle Einzelnen, die die staatliche Gemeinschaft
bilden wollen, darüber einig sind; aber das ist ein glücklicher Zu-
fall, mit dem man nicht rechnen darf und der auch jeden Augenblick
wieder aufhören kann3. Wir nehmen an (oben S. 165), daß alle
irgend eine Rechtsordnung wollen; sie sind aber uneinig darüber,
welche. Die beste (von den vorgeschlagenen) gelten zu lassen,
ist keine Lösung, weil das ja eben die Streitfrage ist, welches die
beste, die richtige sei4. Man muß also offenbar diesen nach sachlichen
Erwägungen unlösbaren sachlichen Streit (der die Voraussetzung
unseres Problemes bildet) nach einem anderen Kriterium als nach

1 Vgl. Sauer, Grundlagen der Gesellschaft (1924) 429.
2 Eine treffliche Kritik dieser und auch anderer Lehren enthält Brie,
Die Legitimation einer usurpierten Staatsgewalt (1866) 26ff. Die älteren
Lehren bei Held, Über Legitimität, Legitimitätsprinzip (Würzburg 1859).
Man entgeht dieser Schwierigkeit auch nicht, indem man erklärt, es solle
nicht eine Macht entscheiden, sondern das Gleichgewicht der sozialen
Mächte. Vgl. bei Carré de Malberg I 199: auch die best ausbalancierte
Macht ist keine Rechtfertigung.
3 Wie z. B. Menzel in Zeitschrift für öffentliches Recht V 9 bemerkt.
4 Diese Schwierigkeit wird gewöhnlich nicht genügend gewürdigt;
vgl. z. B. Schuppe, Gewohnheitsrecht 35 ff., 60 f.; Nelson, System der
philosophischen Rechtslehre (1920) 61.
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[184/0199] II. Teil. Die staatliche Verfassung. Enthält diese Auffassung nicht einen gefährlichen Appell an die Gewalt? Wenn die machthabende Ordnung Anspruch auf Geltung hat und Gehorsam fordern kann, was hindert die Gegner einer geltenden (auch einer gerechten) Ordnung, es mit der Ge- walt zu versuchen, um ihrer Ordnung die Geltung zu verschaffen? Mit dem Augenblick, in dem sie die Übermacht erhält, wird die neue Ordnung ja auch verbindlich und die bisherige unverbind- lich 1. „... et puisque le plus fort“, sagte Rousseau (Contrat social, 1. Buch, 3. Kap.), „a toujours raison, il ne s'agit que de faire en sorte qu'on soit le plus fort.“ 2 Geben wir aber zu, daß die Vernunft entscheiden soll, wie soll das geschehen? Wir setzen ja voraus, es gebe noch keine anerkannte Organisation der Rechtssetzung, keinen anerkannt zu- ständigen Gesetzgeber; denn wenn diese Zuständigkeit anerkannt wäre, müßte auch seine Entscheidung anerkannt werden. Gibt es aber keinen anerkannten Gesetzgeber, wer soll darüber ent- scheiden, was vernünftig und gerecht ist und was nicht? Es ist möglich, daß alle Einzelnen, die die staatliche Gemeinschaft bilden wollen, darüber einig sind; aber das ist ein glücklicher Zu- fall, mit dem man nicht rechnen darf und der auch jeden Augenblick wieder aufhören kann 3. Wir nehmen an (oben S. 165), daß alle irgend eine Rechtsordnung wollen; sie sind aber uneinig darüber, welche. Die beste (von den vorgeschlagenen) gelten zu lassen, ist keine Lösung, weil das ja eben die Streitfrage ist, welches die beste, die richtige sei 4. Man muß also offenbar diesen nach sachlichen Erwägungen unlösbaren sachlichen Streit (der die Voraussetzung unseres Problemes bildet) nach einem anderen Kriterium als nach 1 Vgl. Sauer, Grundlagen der Gesellschaft (1924) 429. 2 Eine treffliche Kritik dieser und auch anderer Lehren enthält Brie, Die Legitimation einer usurpierten Staatsgewalt (1866) 26ff. Die älteren Lehren bei Held, Über Legitimität, Legitimitätsprinzip (Würzburg 1859). Man entgeht dieser Schwierigkeit auch nicht, indem man erklärt, es solle nicht eine Macht entscheiden, sondern das Gleichgewicht der sozialen Mächte. Vgl. bei Carré de Malberg I 199: auch die best ausbalancierte Macht ist keine Rechtfertigung. 3 Wie z. B. Menzel in Zeitschrift für öffentliches Recht V 9 bemerkt. 4 Diese Schwierigkeit wird gewöhnlich nicht genügend gewürdigt; vgl. z. B. Schuppe, Gewohnheitsrecht 35 ff., 60 f.; Nelson, System der philosophischen Rechtslehre (1920) 61.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/199>, abgerufen am 24.11.2024.