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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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Das Verfassungsrecht.

Vorgehens zu erleichtern; es wird ja in der Regel auch ohne Straf-
androhung befolgt. Aber die Befolgung dieser Vorschriften ist
keine Bedingung der Gültigkeit des neuen Verfassungsrechtes.

Was also von der Neuschöpfung einer Verfassung mehrfach
gesagt worden ist, daß sie nämlich nicht mit juristischem Maßstab
gemessen werden könne, daß sie nicht juristisch konstruierbar sei1,
ist nicht weniger richtig von der Teilschöpfung, von der Abände-
rung. Was vom Ganzen gilt, wird wohl auch vom Teile gelten2.
Der Unterschied zwischen der Neuschöpfung, die aus sich selbst
geboren wird, und der bloßen Änderung, die aus dem Schoße der
geltenden Verfassung hervorgehen muß, um gültig zu sein, wäre
ja bloß quantitativ und nicht begrifflich zu erfassen.

Die Verfassungsänderung ist vom juristischen Standpunkt
aus stets ein revolutionärer Vorgang; er spielt sich nicht unter

1 Vgl. Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen 262, 265;
Allgemeine Staatenlehre, 3. A., 270 ff.; Somlo, Juristische Grundlehre
117, 307; v. Kirchmann, Grundbegriffe des Rechts und der Moral, 2. A., 64;
Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht I 54; Carre de Mal-
berg,
Theorie generale de l'Etat I 62 ff., 197. Manche Schriftsteller unter-
scheiden zwischen der Gründung des Staates und der Grundlegung einer
neuen Verfassung, um nur die erste als unableitbar zu erklären, die zweite
aber vom weiterbestehenden Staate abzuleiten; z. B. Zorn, Neue Beiträge
zur Lehre vom Bundesstaat, in Hirths Annalen (1884) 453; Kelsen, All-
gemeine Staatslehre 249; allein rechtlich (nicht historisch-politisch, staats-
rechtlich und nicht völkerrechtlich) stirbt der Staat mit seiner Verfassung.
2 Entgegen der verbreiteten Meinung, daß nur die revolutionären,
d. h. dem bisherigen Revisionsverfahren widersprechenden Abänderungen
rechtlich nicht ableitbar (oder nur aus dem Völkerrecht ableitbar) seien.
Vgl. A. Merkl im Archiv des öffentlichen Rechts 37 65 ff. Carre de Mal-
berg,
II 523 ff., meint unserer Auffassung gegenüber, rechtswissenschaftlich
könne der Staat nur bestimmt werden auf der Annahme, daß die bestehende
Rechtsordnung in Geltung bleibe und beobachtet werde; also auch die Be-
stimmungen über die Verfassungsrevision selbst. Allein die Frage ist eben,
ob die Revision der Verfassung positivrechtlich geregelt werden könne; ob
sie je zur geltenden Rechtsordnung gehört habe. Wir behaupten, nein, weil
die Verfassung, die es unternimmt, ihre eigene Änderung zu ordnen, etwas
unternimmt, das ihre Kräfte übersteigt. Wollte man diese Revisions-
ordnung zum logischen Aufbau des Verfassungsrechtes benutzen, so müßte
sie das Schlußstück des Gewölbes sein und überall entscheiden. Dann
müßte aber auch jede Verfassung (um eine vollständige Verfassung zu sein)
diese entscheidende Frage ordnen, was, wie im Text bemerkt, durchaus nicht
der Fall ist und (logischerweise) nicht der Fall zu sein braucht.
Das Verfassungsrecht.

Vorgehens zu erleichtern; es wird ja in der Regel auch ohne Straf-
androhung befolgt. Aber die Befolgung dieser Vorschriften ist
keine Bedingung der Gültigkeit des neuen Verfassungsrechtes.

Was also von der Neuschöpfung einer Verfassung mehrfach
gesagt worden ist, daß sie nämlich nicht mit juristischem Maßstab
gemessen werden könne, daß sie nicht juristisch konstruierbar sei1,
ist nicht weniger richtig von der Teilschöpfung, von der Abände-
rung. Was vom Ganzen gilt, wird wohl auch vom Teile gelten2.
Der Unterschied zwischen der Neuschöpfung, die aus sich selbst
geboren wird, und der bloßen Änderung, die aus dem Schoße der
geltenden Verfassung hervorgehen muß, um gültig zu sein, wäre
ja bloß quantitativ und nicht begrifflich zu erfassen.

Die Verfassungsänderung ist vom juristischen Standpunkt
aus stets ein revolutionärer Vorgang; er spielt sich nicht unter

1 Vgl. Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen 262, 265;
Allgemeine Staatenlehre, 3. A., 270 ff.; Somlò, Juristische Grundlehre
117, 307; v. Kirchmann, Grundbegriffe des Rechts und der Moral, 2. A., 64;
Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht I 54; Carré de Mal-
berg,
Théorie générale de l'Etat I 62 ff., 197. Manche Schriftsteller unter-
scheiden zwischen der Gründung des Staates und der Grundlegung einer
neuen Verfassung, um nur die erste als unableitbar zu erklären, die zweite
aber vom weiterbestehenden Staate abzuleiten; z. B. Zorn, Neue Beiträge
zur Lehre vom Bundesstaat, in Hirths Annalen (1884) 453; Kelsen, All-
gemeine Staatslehre 249; allein rechtlich (nicht historisch-politisch, staats-
rechtlich und nicht völkerrechtlich) stirbt der Staat mit seiner Verfassung.
2 Entgegen der verbreiteten Meinung, daß nur die revolutionären,
d. h. dem bisherigen Revisionsverfahren widersprechenden Abänderungen
rechtlich nicht ableitbar (oder nur aus dem Völkerrecht ableitbar) seien.
Vgl. A. Merkl im Archiv des öffentlichen Rechts 37 65 ff. Carré de Mal-
berg,
II 523 ff., meint unserer Auffassung gegenüber, rechtswissenschaftlich
könne der Staat nur bestimmt werden auf der Annahme, daß die bestehende
Rechtsordnung in Geltung bleibe und beobachtet werde; also auch die Be-
stimmungen über die Verfassungsrevision selbst. Allein die Frage ist eben,
ob die Revision der Verfassung positivrechtlich geregelt werden könne; ob
sie je zur geltenden Rechtsordnung gehört habe. Wir behaupten, nein, weil
die Verfassung, die es unternimmt, ihre eigene Änderung zu ordnen, etwas
unternimmt, das ihre Kräfte übersteigt. Wollte man diese Revisions-
ordnung zum logischen Aufbau des Verfassungsrechtes benutzen, so müßte
sie das Schlußstück des Gewölbes sein und überall entscheiden. Dann
müßte aber auch jede Verfassung (um eine vollständige Verfassung zu sein)
diese entscheidende Frage ordnen, was, wie im Text bemerkt, durchaus nicht
der Fall ist und (logischerweise) nicht der Fall zu sein braucht.
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[217/0232] Das Verfassungsrecht. Vorgehens zu erleichtern; es wird ja in der Regel auch ohne Straf- androhung befolgt. Aber die Befolgung dieser Vorschriften ist keine Bedingung der Gültigkeit des neuen Verfassungsrechtes. Was also von der Neuschöpfung einer Verfassung mehrfach gesagt worden ist, daß sie nämlich nicht mit juristischem Maßstab gemessen werden könne, daß sie nicht juristisch konstruierbar sei 1, ist nicht weniger richtig von der Teilschöpfung, von der Abände- rung. Was vom Ganzen gilt, wird wohl auch vom Teile gelten 2. Der Unterschied zwischen der Neuschöpfung, die aus sich selbst geboren wird, und der bloßen Änderung, die aus dem Schoße der geltenden Verfassung hervorgehen muß, um gültig zu sein, wäre ja bloß quantitativ und nicht begrifflich zu erfassen. Die Verfassungsänderung ist vom juristischen Standpunkt aus stets ein revolutionärer Vorgang; er spielt sich nicht unter 1 Vgl. Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen 262, 265; Allgemeine Staatenlehre, 3. A., 270 ff.; Somlò, Juristische Grundlehre 117, 307; v. Kirchmann, Grundbegriffe des Rechts und der Moral, 2. A., 64; Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht I 54; Carré de Mal- berg, Théorie générale de l'Etat I 62 ff., 197. Manche Schriftsteller unter- scheiden zwischen der Gründung des Staates und der Grundlegung einer neuen Verfassung, um nur die erste als unableitbar zu erklären, die zweite aber vom weiterbestehenden Staate abzuleiten; z. B. Zorn, Neue Beiträge zur Lehre vom Bundesstaat, in Hirths Annalen (1884) 453; Kelsen, All- gemeine Staatslehre 249; allein rechtlich (nicht historisch-politisch, staats- rechtlich und nicht völkerrechtlich) stirbt der Staat mit seiner Verfassung. 2 Entgegen der verbreiteten Meinung, daß nur die revolutionären, d. h. dem bisherigen Revisionsverfahren widersprechenden Abänderungen rechtlich nicht ableitbar (oder nur aus dem Völkerrecht ableitbar) seien. Vgl. A. Merkl im Archiv des öffentlichen Rechts 37 65 ff. Carré de Mal- berg, II 523 ff., meint unserer Auffassung gegenüber, rechtswissenschaftlich könne der Staat nur bestimmt werden auf der Annahme, daß die bestehende Rechtsordnung in Geltung bleibe und beobachtet werde; also auch die Be- stimmungen über die Verfassungsrevision selbst. Allein die Frage ist eben, ob die Revision der Verfassung positivrechtlich geregelt werden könne; ob sie je zur geltenden Rechtsordnung gehört habe. Wir behaupten, nein, weil die Verfassung, die es unternimmt, ihre eigene Änderung zu ordnen, etwas unternimmt, das ihre Kräfte übersteigt. Wollte man diese Revisions- ordnung zum logischen Aufbau des Verfassungsrechtes benutzen, so müßte sie das Schlußstück des Gewölbes sein und überall entscheiden. Dann müßte aber auch jede Verfassung (um eine vollständige Verfassung zu sein) diese entscheidende Frage ordnen, was, wie im Text bemerkt, durchaus nicht der Fall ist und (logischerweise) nicht der Fall zu sein braucht.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/232>, abgerufen am 24.11.2024.