Wo kein Gesetzesrecht besteht, stellt sich diese Frage gar nicht1. In einem Staate ohne Gesetzgeber und ohne Gesetzesrecht ist der Richter insofern ungehindert, das von ihm (oder von anderen) geübte Recht als verbindlich anzuerkennen. Aber sobald sich die Frage stellt, ob das bisherige Recht oder ein anderes als verbind- lich anzuerkennen sei, muß er erkennen, daß in der Tatsache der bisherigen noch so alten Übung auch kein unbedingter Grund liegen kann, das geübte Recht weiterzuüben und jederzeit sich an diese Übung zu halten, lediglich weil sie einmal bestanden hat. Erweist sich das bisher geübte Recht inhaltlich als mangelhaft, so spricht allerdings die Erwägung der Rechtsbeständigkeit für die Beibehaltung; aber nicht anders als sie sich auch beim Gesetzgeber einstellt, wenn er vor der Frage steht, ob er das gesetzte Recht belassen oder verbessern soll; es ist das Postulat der Rechtssicher- heit, das mit dem der Gerechtigkeit im Kampfe liegt2. Der Richter ist dann nicht mehr an seine bisherige Praxis gebunden als der Gesetzgeber an sein bisheriges Gesetz. Es wird dadurch die Frage nicht gelöst, ob neben bzw. vor dem Gesetzesrecht grundsätzlich Gewohnheitsrecht anzuerkennen sei.
Das Recht, das nach der herrschenden Lehre von der rechts- anwendenden Behörde neben dem Gesetzesrecht als Gewohnheits- recht anerkannt werden soll, ist das, was in gewisser Weise (während längerer Zeit mit einer gewissen Einhelligkeit und Folgerichtigkeit, im Bewußtsein des Rechts) tatsächlich geübt worden ist. Von wem geübt? Von der rechtsanwendenden Behörde selbst oder von den beteiligten Privatpersonen? Wir wollen die eine und die andere Annahme ins Auge fassen:
Nach der ersten Annahme wäre die Übung der rechtsanwen- denden Behörde selbst erheblich; es würde sich also fragen, ob und wann diese Behörde das von ihr selbst schon geübte Recht als objektives Recht anerkennen solle oder nicht. Wenn nun dem- gemäß eine Behörde nur diejenigen Maximen als Recht anerkennen kann, die sie selbst befolgt hat, kann sie nicht anerkennen, was
von der bisherigen Form abweichen und damit auch den Grundsatz in Frage stellen. Vgl. dazu die Entscheidung des Schweizer. Bundesgerichts vom 11. November 1915, 41 I 431. Vgl. unten S. 230.
1 Vgl. Schuppe, Gewohnheitsrecht (1890) 3.
2 Vgl. "Die Lücken des Gesetzes" 97.
II. Teil. Die staatliche Verfassung.
Wo kein Gesetzesrecht besteht, stellt sich diese Frage gar nicht1. In einem Staate ohne Gesetzgeber und ohne Gesetzesrecht ist der Richter insofern ungehindert, das von ihm (oder von anderen) geübte Recht als verbindlich anzuerkennen. Aber sobald sich die Frage stellt, ob das bisherige Recht oder ein anderes als verbind- lich anzuerkennen sei, muß er erkennen, daß in der Tatsache der bisherigen noch so alten Übung auch kein unbedingter Grund liegen kann, das geübte Recht weiterzuüben und jederzeit sich an diese Übung zu halten, lediglich weil sie einmal bestanden hat. Erweist sich das bisher geübte Recht inhaltlich als mangelhaft, so spricht allerdings die Erwägung der Rechtsbeständigkeit für die Beibehaltung; aber nicht anders als sie sich auch beim Gesetzgeber einstellt, wenn er vor der Frage steht, ob er das gesetzte Recht belassen oder verbessern soll; es ist das Postulat der Rechtssicher- heit, das mit dem der Gerechtigkeit im Kampfe liegt2. Der Richter ist dann nicht mehr an seine bisherige Praxis gebunden als der Gesetzgeber an sein bisheriges Gesetz. Es wird dadurch die Frage nicht gelöst, ob neben bzw. vor dem Gesetzesrecht grundsätzlich Gewohnheitsrecht anzuerkennen sei.
Das Recht, das nach der herrschenden Lehre von der rechts- anwendenden Behörde neben dem Gesetzesrecht als Gewohnheits- recht anerkannt werden soll, ist das, was in gewisser Weise (während längerer Zeit mit einer gewissen Einhelligkeit und Folgerichtigkeit, im Bewußtsein des Rechts) tatsächlich geübt worden ist. Von wem geübt? Von der rechtsanwendenden Behörde selbst oder von den beteiligten Privatpersonen? Wir wollen die eine und die andere Annahme ins Auge fassen:
Nach der ersten Annahme wäre die Übung der rechtsanwen- denden Behörde selbst erheblich; es würde sich also fragen, ob und wann diese Behörde das von ihr selbst schon geübte Recht als objektives Recht anerkennen solle oder nicht. Wenn nun dem- gemäß eine Behörde nur diejenigen Maximen als Recht anerkennen kann, die sie selbst befolgt hat, kann sie nicht anerkennen, was
von der bisherigen Form abweichen und damit auch den Grundsatz in Frage stellen. Vgl. dazu die Entscheidung des Schweizer. Bundesgerichts vom 11. November 1915, 41 I 431. Vgl. unten S. 230.
1 Vgl. Schuppe, Gewohnheitsrecht (1890) 3.
2 Vgl. „Die Lücken des Gesetzes“ 97.
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Wo kein Gesetzesrecht besteht, stellt sich diese Frage gar
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geübte Recht als verbindlich anzuerkennen. Aber sobald sich die
Frage stellt, ob das bisherige Recht oder ein anderes als verbind-
lich anzuerkennen sei, muß er erkennen, daß in der Tatsache der
bisherigen noch so alten Übung auch kein unbedingter Grund
liegen kann, das geübte Recht weiterzuüben und jederzeit sich
an diese Übung zu halten, lediglich weil sie einmal bestanden hat.
Erweist sich das bisher geübte Recht inhaltlich als mangelhaft, so
spricht allerdings die Erwägung der Rechtsbeständigkeit für die
Beibehaltung; aber nicht anders als sie sich auch beim Gesetzgeber
einstellt, wenn er vor der Frage steht, ob er das gesetzte Recht
belassen oder verbessern soll; es ist das Postulat der Rechtssicher-
heit, das mit dem der Gerechtigkeit im Kampfe liegt 2. Der Richter
ist dann nicht mehr an seine bisherige Praxis gebunden als der
Gesetzgeber an sein bisheriges Gesetz. Es wird dadurch die Frage
nicht gelöst, ob neben bzw. vor dem Gesetzesrecht grundsätzlich
Gewohnheitsrecht anzuerkennen sei.
Das Recht, das nach der herrschenden Lehre von der rechts-
anwendenden Behörde neben dem Gesetzesrecht als Gewohnheits-
recht anerkannt werden soll, ist das, was in gewisser Weise (während
längerer Zeit mit einer gewissen Einhelligkeit und Folgerichtigkeit,
im Bewußtsein des Rechts) tatsächlich geübt worden ist. Von
wem geübt? Von der rechtsanwendenden Behörde selbst oder von
den beteiligten Privatpersonen? Wir wollen die eine und die andere
Annahme ins Auge fassen:
Nach der ersten Annahme wäre die Übung der rechtsanwen-
denden Behörde selbst erheblich; es würde sich also fragen, ob
und wann diese Behörde das von ihr selbst schon geübte Recht als
objektives Recht anerkennen solle oder nicht. Wenn nun dem-
gemäß eine Behörde nur diejenigen Maximen als Recht anerkennen
kann, die sie selbst befolgt hat, kann sie nicht anerkennen, was
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1 Vgl. Schuppe, Gewohnheitsrecht (1890) 3.
2 Vgl. „Die Lücken des Gesetzes“ 97.
1 von der bisherigen Form abweichen und damit auch den Grundsatz in Frage
stellen. Vgl. dazu die Entscheidung des Schweizer. Bundesgerichts vom
11. November 1915, 41 I 431. Vgl. unten S. 230.
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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/239>, abgerufen am 21.11.2024.
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