hat und daß das Gesetz bei Buße von Fr. 10 verlangt, daß sie am zweiten Tag abgegeben werden: er wird aus diesen Prämissen den Schluß ziehen, daß der Wirt Fr. 10 Buße zu zahlen hat. Oder: der Zollbeamte steht, mit dem Zolltarif in der Hand, an der Grenze und erklärt dem Manne, der ein Rind daherführt: Sie haben Fr. 20 Zoll zu bezahlen.
Das ist in der Tat die entscheidende Geistesoperation des- jenigen, der einen allgemeinen Satz auf einen konkreten Fall an- wendet. Aber es ist auch die einfachste Operation; denn, wenn die Vordersätze gegeben sind, ist der Schluß auch gegeben; er braucht beinahe nicht mehr ausdrücklich gezogen zu werden, so einfältig ist es. Der Wirt, der die Liste nicht abgeliefert, der Mann, der den Ochsen über die Grenze gebracht hat, könnten sozusagen ohne weitere Feststellung verhalten, gezwungen werden, ihre ge- setzliche Pflicht zu erfüllen. Das ist in der Tat richtig: die Schluß- operation ist zwar notwendig zur Rechtsanwendung, aber sie ist so bestimmt vorgezeichnet, daß es beinahe pedantisch ist, sie aus- führlich wiederzugeben.
Die Rechtsanwendung, abgesehen also von der Auslegung des Gesetzes, umfaßt aber noch eine zweite Aufgabe, die häufig schwie- riger ist: die Feststellung der Tatsachen, welche die Voraussetzungen des anzuwendenden Rechtssatzes bilden: der Wirt behauptet viel- leicht, er habe die Anmeldungen rechtzeitig zur Post gegeben; der Mann am Zoll, das Rind sei ihm über die Grenze entlaufen. Die Feststellung dieser Tatsachen, von denen die Anwendung des Rechtssatzes abhängt, ist (abgesehen von der Beobachtung ge- setzlicher Beweisregeln) als Geistesoperation nicht sowohl eine juristische als eine historische Aufgabe, die aber, sobald Zweifel erhoben werden, von jemand in einer für die Beteiligten verbind- lichen Weise vorgenommen werden muß. Und da zwar nicht die Rechtssätze, wohl aber die Tatsachen immer bestritten werden können (auch wo sie in guten Treuen unbestreitbar sind), muß überall für diese autoritative Festsetzung der tatsächlichen Voraus- setzungen der Rechtssätze gesorgt sein; denn ohne sie ist die An- wendung der Rechtssätze nicht möglich.
Das Schwierige in der Aufgabe, Recht anzuwenden, ist also nicht die logische Operation, die Ziehung des Schlusses, denn die ist unvermeidlich, wenn die Prämissen feststehen, sondern die
Burckhardt, Organisation. 17
Die Rechtsanwendung.
hat und daß das Gesetz bei Buße von Fr. 10 verlangt, daß sie am zweiten Tag abgegeben werden: er wird aus diesen Prämissen den Schluß ziehen, daß der Wirt Fr. 10 Buße zu zahlen hat. Oder: der Zollbeamte steht, mit dem Zolltarif in der Hand, an der Grenze und erklärt dem Manne, der ein Rind daherführt: Sie haben Fr. 20 Zoll zu bezahlen.
Das ist in der Tat die entscheidende Geistesoperation des- jenigen, der einen allgemeinen Satz auf einen konkreten Fall an- wendet. Aber es ist auch die einfachste Operation; denn, wenn die Vordersätze gegeben sind, ist der Schluß auch gegeben; er braucht beinahe nicht mehr ausdrücklich gezogen zu werden, so einfältig ist es. Der Wirt, der die Liste nicht abgeliefert, der Mann, der den Ochsen über die Grenze gebracht hat, könnten sozusagen ohne weitere Feststellung verhalten, gezwungen werden, ihre ge- setzliche Pflicht zu erfüllen. Das ist in der Tat richtig: die Schluß- operation ist zwar notwendig zur Rechtsanwendung, aber sie ist so bestimmt vorgezeichnet, daß es beinahe pedantisch ist, sie aus- führlich wiederzugeben.
Die Rechtsanwendung, abgesehen also von der Auslegung des Gesetzes, umfaßt aber noch eine zweite Aufgabe, die häufig schwie- riger ist: die Feststellung der Tatsachen, welche die Voraussetzungen des anzuwendenden Rechtssatzes bilden: der Wirt behauptet viel- leicht, er habe die Anmeldungen rechtzeitig zur Post gegeben; der Mann am Zoll, das Rind sei ihm über die Grenze entlaufen. Die Feststellung dieser Tatsachen, von denen die Anwendung des Rechtssatzes abhängt, ist (abgesehen von der Beobachtung ge- setzlicher Beweisregeln) als Geistesoperation nicht sowohl eine juristische als eine historische Aufgabe, die aber, sobald Zweifel erhoben werden, von jemand in einer für die Beteiligten verbind- lichen Weise vorgenommen werden muß. Und da zwar nicht die Rechtssätze, wohl aber die Tatsachen immer bestritten werden können (auch wo sie in guten Treuen unbestreitbar sind), muß überall für diese autoritative Festsetzung der tatsächlichen Voraus- setzungen der Rechtssätze gesorgt sein; denn ohne sie ist die An- wendung der Rechtssätze nicht möglich.
Das Schwierige in der Aufgabe, Recht anzuwenden, ist also nicht die logische Operation, die Ziehung des Schlusses, denn die ist unvermeidlich, wenn die Prämissen feststehen, sondern die
Burckhardt, Organisation. 17
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0272"n="257"/><fwplace="top"type="header">Die Rechtsanwendung.</fw><lb/>
hat und daß das Gesetz bei Buße von Fr. 10 verlangt, daß sie am<lb/>
zweiten Tag abgegeben werden: er wird aus diesen Prämissen den<lb/>
Schluß ziehen, daß der Wirt Fr. 10 Buße zu zahlen hat. Oder:<lb/>
der Zollbeamte steht, mit dem Zolltarif in der Hand, an der Grenze<lb/>
und erklärt dem Manne, der ein Rind daherführt: Sie haben<lb/>
Fr. 20 Zoll zu bezahlen.</p><lb/><p>Das ist in der Tat die entscheidende Geistesoperation des-<lb/>
jenigen, der einen allgemeinen Satz auf einen konkreten Fall an-<lb/>
wendet. Aber es ist auch die einfachste Operation; denn, wenn die<lb/>
Vordersätze gegeben sind, ist der Schluß auch gegeben; er braucht<lb/>
beinahe nicht mehr ausdrücklich gezogen zu werden, so einfältig<lb/>
ist es. Der Wirt, der die Liste nicht abgeliefert, der Mann, der den<lb/>
Ochsen über die Grenze gebracht hat, könnten sozusagen ohne<lb/>
weitere Feststellung <hirendition="#g">verhalten, gezwungen</hi> werden, ihre ge-<lb/>
setzliche Pflicht zu erfüllen. Das ist in der Tat richtig: die Schluß-<lb/>
operation ist zwar notwendig zur Rechtsanwendung, aber sie ist<lb/>
so bestimmt vorgezeichnet, daß es beinahe pedantisch ist, sie aus-<lb/>
führlich wiederzugeben.</p><lb/><p>Die Rechtsanwendung, abgesehen also von der Auslegung des<lb/>
Gesetzes, umfaßt aber noch eine zweite Aufgabe, die häufig schwie-<lb/>
riger ist: die <hirendition="#b">Feststellung der Tatsachen,</hi> welche die Voraussetzungen<lb/>
des anzuwendenden Rechtssatzes bilden: der Wirt behauptet viel-<lb/>
leicht, er habe die Anmeldungen rechtzeitig zur Post gegeben;<lb/>
der Mann am Zoll, das Rind sei ihm über die Grenze entlaufen.<lb/>
Die Feststellung dieser Tatsachen, von denen die Anwendung des<lb/>
Rechtssatzes abhängt, ist (abgesehen von der Beobachtung ge-<lb/>
setzlicher Beweisregeln) als Geistesoperation nicht sowohl eine<lb/>
juristische als eine historische Aufgabe, die aber, sobald Zweifel<lb/>
erhoben werden, von jemand in einer für die Beteiligten verbind-<lb/>
lichen Weise vorgenommen werden muß. Und da zwar nicht die<lb/>
Rechtssätze, wohl aber die Tatsachen immer bestritten werden<lb/>
können (auch wo sie in guten Treuen unbestreitbar sind), muß<lb/>
überall für diese autoritative Festsetzung der tatsächlichen Voraus-<lb/>
setzungen der Rechtssätze gesorgt sein; denn ohne sie ist die An-<lb/>
wendung der Rechtssätze nicht möglich.</p><lb/><p>Das <hirendition="#g">Schwierige</hi> in der Aufgabe, Recht anzuwenden, ist also<lb/>
nicht die logische Operation, die Ziehung des Schlusses, denn die<lb/>
ist unvermeidlich, wenn die Prämissen feststehen, sondern die<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Burckhardt,</hi> Organisation. 17</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[257/0272]
Die Rechtsanwendung.
hat und daß das Gesetz bei Buße von Fr. 10 verlangt, daß sie am
zweiten Tag abgegeben werden: er wird aus diesen Prämissen den
Schluß ziehen, daß der Wirt Fr. 10 Buße zu zahlen hat. Oder:
der Zollbeamte steht, mit dem Zolltarif in der Hand, an der Grenze
und erklärt dem Manne, der ein Rind daherführt: Sie haben
Fr. 20 Zoll zu bezahlen.
Das ist in der Tat die entscheidende Geistesoperation des-
jenigen, der einen allgemeinen Satz auf einen konkreten Fall an-
wendet. Aber es ist auch die einfachste Operation; denn, wenn die
Vordersätze gegeben sind, ist der Schluß auch gegeben; er braucht
beinahe nicht mehr ausdrücklich gezogen zu werden, so einfältig
ist es. Der Wirt, der die Liste nicht abgeliefert, der Mann, der den
Ochsen über die Grenze gebracht hat, könnten sozusagen ohne
weitere Feststellung verhalten, gezwungen werden, ihre ge-
setzliche Pflicht zu erfüllen. Das ist in der Tat richtig: die Schluß-
operation ist zwar notwendig zur Rechtsanwendung, aber sie ist
so bestimmt vorgezeichnet, daß es beinahe pedantisch ist, sie aus-
führlich wiederzugeben.
Die Rechtsanwendung, abgesehen also von der Auslegung des
Gesetzes, umfaßt aber noch eine zweite Aufgabe, die häufig schwie-
riger ist: die Feststellung der Tatsachen, welche die Voraussetzungen
des anzuwendenden Rechtssatzes bilden: der Wirt behauptet viel-
leicht, er habe die Anmeldungen rechtzeitig zur Post gegeben;
der Mann am Zoll, das Rind sei ihm über die Grenze entlaufen.
Die Feststellung dieser Tatsachen, von denen die Anwendung des
Rechtssatzes abhängt, ist (abgesehen von der Beobachtung ge-
setzlicher Beweisregeln) als Geistesoperation nicht sowohl eine
juristische als eine historische Aufgabe, die aber, sobald Zweifel
erhoben werden, von jemand in einer für die Beteiligten verbind-
lichen Weise vorgenommen werden muß. Und da zwar nicht die
Rechtssätze, wohl aber die Tatsachen immer bestritten werden
können (auch wo sie in guten Treuen unbestreitbar sind), muß
überall für diese autoritative Festsetzung der tatsächlichen Voraus-
setzungen der Rechtssätze gesorgt sein; denn ohne sie ist die An-
wendung der Rechtssätze nicht möglich.
Das Schwierige in der Aufgabe, Recht anzuwenden, ist also
nicht die logische Operation, die Ziehung des Schlusses, denn die
ist unvermeidlich, wenn die Prämissen feststehen, sondern die
Burckhardt, Organisation. 17
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/272>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.