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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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II. Teil. Die staatliche Verfassung.
diese Arbeit ist zwar ähnlich der der Gesetzesauslegung, aber doch
nicht damit identisch, weil hier, auf dem Gebiete der gewillkürten
Rechtsgeschäfte ja nicht die Vernunft maßgebend ist, sondern der
mutmaßliche (zufällige) Wille der Parteien, der wiederum historisch
zu ermitteln ist1.

Mit dem zuletzt Gesagten haben wir die geistige Arbeit der
Rechtsanwendung gekennzeichnet. Wichtiger ist aber die rechtliche
Eigenart dieser Aufgabe.
Sie besteht, wie bemerkt, in der verbind-
lichen Festsetzung der tatsächlichen Voraussetzungen der anzu-
wendenden Rechtsnorm, und zwar behufs Erzwingung dieser Norm.
Die rechtsanwendende Anordnung zeichnet sich also aus durch
zweierlei:

Erstens durch ihren individuellen Charakter. Ihr liegt es ob,
festzustellen, daß die in der anzuwendenden Norm abstrakt um-
schriebenen Voraussetzungen in concreto wirklich gegeben sind,
daß somit die Rechtsfolge der Norm einzutreten hat; alles, damit
diese Rechtsfolge erzwungen werden könne ohne weiteren Streit,
ohne daß die Berechtigung dieser Anwendung in Zweifel gezogen
werden könnte. Die rechtsanwendende Anordnung, Urteil oder Ver-
fügung, muß also die zu treffende Vollzugsmaßregel so kennzeichnen,
daß sie getroffen werden kann, ohne daß man auf die Frage, ob
die Voraussetzungen gegeben seien, zurückzukommen brauchte,
also durch andere, im Verhältnis zu den materiellen Merkmalen
des Gesetzes, formelle Merkmale. Wenn das Gesetz z. B. will, daß
der Urheber eines widerrechtlichen Schadens dem Geschädigten
Schadenersatz leiste, muß das Urteil, ohne diese Merkmale zu ver-
wenden, angeben, wer verpflichtet sei, Ersatz zu leisten, wieviel
und wem. Eine Erkenntnis, welche erklärte: der Urheber dieser
Handlung ist verpflichtet, 1000 Fr. dem X zu bezahlen; oder: der
Y ist verpflichtet, dem X den Schaden zu ersetzen; oder der
Y ist verpflichtet, dem Geschädigten als Schadenersatz Fr. 1000
zu leisten (ohne anzugeben wer der Geschädigte ist oder der Ur-
heber des Schadens bzw. was der Schaden ist), wäre eine unvoll-
ständige, mangelhafte Rechtsanwendung, weil sie nicht alles sagte,
was zur glatten Vollziehung jenes Rechtssatzes nötig ist. In diesem

1 Vgl. Die Lücken des Gesetzes 77; falls nicht der Gesetzgeber er-
gänzende Normen an die Hand gegeben hat; vgl. oben S. 39.

II. Teil. Die staatliche Verfassung.
diese Arbeit ist zwar ähnlich der der Gesetzesauslegung, aber doch
nicht damit identisch, weil hier, auf dem Gebiete der gewillkürten
Rechtsgeschäfte ja nicht die Vernunft maßgebend ist, sondern der
mutmaßliche (zufällige) Wille der Parteien, der wiederum historisch
zu ermitteln ist1.

Mit dem zuletzt Gesagten haben wir die geistige Arbeit der
Rechtsanwendung gekennzeichnet. Wichtiger ist aber die rechtliche
Eigenart dieser Aufgabe.
Sie besteht, wie bemerkt, in der verbind-
lichen Festsetzung der tatsächlichen Voraussetzungen der anzu-
wendenden Rechtsnorm, und zwar behufs Erzwingung dieser Norm.
Die rechtsanwendende Anordnung zeichnet sich also aus durch
zweierlei:

Erstens durch ihren individuellen Charakter. Ihr liegt es ob,
festzustellen, daß die in der anzuwendenden Norm abstrakt um-
schriebenen Voraussetzungen in concreto wirklich gegeben sind,
daß somit die Rechtsfolge der Norm einzutreten hat; alles, damit
diese Rechtsfolge erzwungen werden könne ohne weiteren Streit,
ohne daß die Berechtigung dieser Anwendung in Zweifel gezogen
werden könnte. Die rechtsanwendende Anordnung, Urteil oder Ver-
fügung, muß also die zu treffende Vollzugsmaßregel so kennzeichnen,
daß sie getroffen werden kann, ohne daß man auf die Frage, ob
die Voraussetzungen gegeben seien, zurückzukommen brauchte,
also durch andere, im Verhältnis zu den materiellen Merkmalen
des Gesetzes, formelle Merkmale. Wenn das Gesetz z. B. will, daß
der Urheber eines widerrechtlichen Schadens dem Geschädigten
Schadenersatz leiste, muß das Urteil, ohne diese Merkmale zu ver-
wenden, angeben, wer verpflichtet sei, Ersatz zu leisten, wieviel
und wem. Eine Erkenntnis, welche erklärte: der Urheber dieser
Handlung ist verpflichtet, 1000 Fr. dem X zu bezahlen; oder: der
Y ist verpflichtet, dem X den Schaden zu ersetzen; oder der
Y ist verpflichtet, dem Geschädigten als Schadenersatz Fr. 1000
zu leisten (ohne anzugeben wer der Geschädigte ist oder der Ur-
heber des Schadens bzw. was der Schaden ist), wäre eine unvoll-
ständige, mangelhafte Rechtsanwendung, weil sie nicht alles sagte,
was zur glatten Vollziehung jenes Rechtssatzes nötig ist. In diesem

1 Vgl. Die Lücken des Gesetzes 77; falls nicht der Gesetzgeber er-
gänzende Normen an die Hand gegeben hat; vgl. oben S. 39.
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[260/0275] II. Teil. Die staatliche Verfassung. diese Arbeit ist zwar ähnlich der der Gesetzesauslegung, aber doch nicht damit identisch, weil hier, auf dem Gebiete der gewillkürten Rechtsgeschäfte ja nicht die Vernunft maßgebend ist, sondern der mutmaßliche (zufällige) Wille der Parteien, der wiederum historisch zu ermitteln ist 1. Mit dem zuletzt Gesagten haben wir die geistige Arbeit der Rechtsanwendung gekennzeichnet. Wichtiger ist aber die rechtliche Eigenart dieser Aufgabe. Sie besteht, wie bemerkt, in der verbind- lichen Festsetzung der tatsächlichen Voraussetzungen der anzu- wendenden Rechtsnorm, und zwar behufs Erzwingung dieser Norm. Die rechtsanwendende Anordnung zeichnet sich also aus durch zweierlei: Erstens durch ihren individuellen Charakter. Ihr liegt es ob, festzustellen, daß die in der anzuwendenden Norm abstrakt um- schriebenen Voraussetzungen in concreto wirklich gegeben sind, daß somit die Rechtsfolge der Norm einzutreten hat; alles, damit diese Rechtsfolge erzwungen werden könne ohne weiteren Streit, ohne daß die Berechtigung dieser Anwendung in Zweifel gezogen werden könnte. Die rechtsanwendende Anordnung, Urteil oder Ver- fügung, muß also die zu treffende Vollzugsmaßregel so kennzeichnen, daß sie getroffen werden kann, ohne daß man auf die Frage, ob die Voraussetzungen gegeben seien, zurückzukommen brauchte, also durch andere, im Verhältnis zu den materiellen Merkmalen des Gesetzes, formelle Merkmale. Wenn das Gesetz z. B. will, daß der Urheber eines widerrechtlichen Schadens dem Geschädigten Schadenersatz leiste, muß das Urteil, ohne diese Merkmale zu ver- wenden, angeben, wer verpflichtet sei, Ersatz zu leisten, wieviel und wem. Eine Erkenntnis, welche erklärte: der Urheber dieser Handlung ist verpflichtet, 1000 Fr. dem X zu bezahlen; oder: der Y ist verpflichtet, dem X den Schaden zu ersetzen; oder der Y ist verpflichtet, dem Geschädigten als Schadenersatz Fr. 1000 zu leisten (ohne anzugeben wer der Geschädigte ist oder der Ur- heber des Schadens bzw. was der Schaden ist), wäre eine unvoll- ständige, mangelhafte Rechtsanwendung, weil sie nicht alles sagte, was zur glatten Vollziehung jenes Rechtssatzes nötig ist. In diesem 1 Vgl. Die Lücken des Gesetzes 77; falls nicht der Gesetzgeber er- gänzende Normen an die Hand gegeben hat; vgl. oben S. 39.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/275>, abgerufen am 21.11.2024.