Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.Die Rechtsanwendung. spricht dem Gegensatz von abstrakt und konkret, des Begriff-lichen und Individuellen. Gewiß ist auch der konkrete Einzelfall spezieller als der abstrakte Begriff, die konkrete Entscheidung spezieller als die angewendete Norm. Aber der konkrete Fall ist bereits im abstrakten Begriff enthalten, die Entscheidung in der Norm vorgezeichnet. Die Anwendung der allgemeinen Norm auf den besonderen Fall ist nur eine logische Operation, die sachlich nichts Neues schafft, während das Urteil nach der bekämpften Meinung, ja, wie das Gesetz, ein Akt der Rechtssetzung, (oder Rechts"erzeugung") sein soll, nur im kleinen. Erfahrungsgemäß kann es das unter Umständen in gewissem Sinn sein; nämlich, wenn das Urteil zugleich, mangels gesetzlicher Norm, das Recht (behufs Anwendung auf den einen Fall) festsetzt; aber dann ist das Urteil eben mehr als Rechtsanwendung; es ist ein Akt "indi- vidueller" Rechtssetzung1, also ein Akt, der sachlich etwas Neues bringt, eine Verbindlichkeit schafft, die vorher, auch im Grundsatz, nicht gegeben war. Also nicht Anwendung bestehenden Rechts, sondern Schaffung neuen Rechts. Das kann ja auch für einen einzelnen Fall geschehen, durch den Gesetzgeber wie durch den Richter, vom Gesetzgeber z. B., wenn, ohne Berufung auf eine geltende Norm, beschlossen wird: die Unternehmung erhält das Enteignungsrecht; der nächste zum Tode Verurteilte wird be- gnadigt usw. Das sind individuelle Anordnungen, aber es lauten und doch die konkrete Anwendung eines Rechtssatzes sein kann; z. B. alle Schweizer haben sich innert 14 Tagen impfen zu lassen. Deutlich unterscheidet Rosin, Das Polizeiverordnungsrecht in Preußen, 2. A. (1895), 12; nur setzt dieser Gegensatz, um nämlich folgerichtig durchgeführt werden zu können, voraus, daß der anzuwendende Rechtssatz vollständig gegeben ist, vgl. 17. Hänel, Das Gesetz im formellen und im materiellen Sinn (1888) 135, 184, widerspricht mit Recht der Ansicht, daß der Gegensatz des Allgemeinen und Besonderen hier entscheide; aber auch der Gegensatz von objektivem und subjektivem Recht ist hier nicht verständlich; vgl. oben S. 273 f. Richtigerweise sind Rechtssetzung und Rechtsanwendung gegenüberzustellen, was allerdings beim "individuellen Rechtssatz" nicht durchführbar ist; wenn aber individuelle Rechtssätze zulässig sind, ent- steht auch keine praktische Schwierigkeit über die Ausscheidung der bei- den Funktionen. Vgl. Carre de Malberg a. a. O. I 365. 1 Was ein Widerspruch ist, nicht nur weil was rechtens ist, grund-
sätzlich, also abstrakt sein muß, sondern auch weil der Richter die ab- strakte Regel nicht verbindlich machen kann; vgl. Lücken des Gesetzes 93. Die Rechtsanwendung. spricht dem Gegensatz von abstrakt und konkret, des Begriff-lichen und Individuellen. Gewiß ist auch der konkrete Einzelfall spezieller als der abstrakte Begriff, die konkrete Entscheidung spezieller als die angewendete Norm. Aber der konkrete Fall ist bereits im abstrakten Begriff enthalten, die Entscheidung in der Norm vorgezeichnet. Die Anwendung der allgemeinen Norm auf den besonderen Fall ist nur eine logische Operation, die sachlich nichts Neues schafft, während das Urteil nach der bekämpften Meinung, ja, wie das Gesetz, ein Akt der Rechtssetzung, (oder Rechts„erzeugung“) sein soll, nur im kleinen. Erfahrungsgemäß kann es das unter Umständen in gewissem Sinn sein; nämlich, wenn das Urteil zugleich, mangels gesetzlicher Norm, das Recht (behufs Anwendung auf den einen Fall) festsetzt; aber dann ist das Urteil eben mehr als Rechtsanwendung; es ist ein Akt „indi- vidueller“ Rechtssetzung1, also ein Akt, der sachlich etwas Neues bringt, eine Verbindlichkeit schafft, die vorher, auch im Grundsatz, nicht gegeben war. Also nicht Anwendung bestehenden Rechts, sondern Schaffung neuen Rechts. Das kann ja auch für einen einzelnen Fall geschehen, durch den Gesetzgeber wie durch den Richter, vom Gesetzgeber z. B., wenn, ohne Berufung auf eine geltende Norm, beschlossen wird: die Unternehmung erhält das Enteignungsrecht; der nächste zum Tode Verurteilte wird be- gnadigt usw. Das sind individuelle Anordnungen, aber es lauten und doch die konkrete Anwendung eines Rechtssatzes sein kann; z. B. alle Schweizer haben sich innert 14 Tagen impfen zu lassen. Deutlich unterscheidet Rosin, Das Polizeiverordnungsrecht in Preußen, 2. A. (1895), 12; nur setzt dieser Gegensatz, um nämlich folgerichtig durchgeführt werden zu können, voraus, daß der anzuwendende Rechtssatz vollständig gegeben ist, vgl. 17. Hänel, Das Gesetz im formellen und im materiellen Sinn (1888) 135, 184, widerspricht mit Recht der Ansicht, daß der Gegensatz des Allgemeinen und Besonderen hier entscheide; aber auch der Gegensatz von objektivem und subjektivem Recht ist hier nicht verständlich; vgl. oben S. 273 f. Richtigerweise sind Rechtssetzung und Rechtsanwendung gegenüberzustellen, was allerdings beim „individuellen Rechtssatz“ nicht durchführbar ist; wenn aber individuelle Rechtssätze zulässig sind, ent- steht auch keine praktische Schwierigkeit über die Ausscheidung der bei- den Funktionen. Vgl. Carré de Malberg a. a. O. I 365. 1 Was ein Widerspruch ist, nicht nur weil was rechtens ist, grund-
sätzlich, also abstrakt sein muß, sondern auch weil der Richter die ab- strakte Regel nicht verbindlich machen kann; vgl. Lücken des Gesetzes 93. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0290" n="275"/><fw place="top" type="header">Die Rechtsanwendung.</fw><lb/> spricht dem Gegensatz von abstrakt und konkret, des Begriff-<lb/> lichen und Individuellen. Gewiß ist auch der konkrete Einzelfall<lb/> spezieller als der abstrakte Begriff, die konkrete Entscheidung<lb/> spezieller als die angewendete Norm. Aber der konkrete Fall ist<lb/> bereits im abstrakten Begriff enthalten, die Entscheidung in der<lb/> Norm vorgezeichnet. Die Anwendung der allgemeinen Norm auf<lb/> den besonderen Fall ist nur eine logische Operation, die sachlich<lb/> nichts Neues schafft, während das Urteil nach der bekämpften<lb/> Meinung, ja, wie das Gesetz, ein Akt der Rechtssetzung, (oder<lb/> Rechts„erzeugung“) sein soll, nur im kleinen. Erfahrungsgemäß<lb/><hi rendition="#g">kann</hi> es das unter Umständen in gewissem Sinn sein; nämlich,<lb/> wenn das Urteil zugleich, mangels gesetzlicher Norm, das Recht<lb/> (behufs Anwendung auf den <hi rendition="#g">einen</hi> Fall) festsetzt; aber dann ist<lb/> das Urteil eben <hi rendition="#g">mehr</hi> als Rechtsanwendung; es ist ein Akt „indi-<lb/> vidueller“ Rechtssetzung<note place="foot" n="1">Was ein Widerspruch ist, nicht nur weil was rechtens ist, grund-<lb/> sätzlich, also abstrakt sein muß, sondern auch weil der Richter die ab-<lb/> strakte Regel nicht verbindlich machen kann; vgl. Lücken des Gesetzes 93.</note>, also ein Akt, der sachlich etwas Neues<lb/> bringt, eine Verbindlichkeit schafft, die vorher, auch im Grundsatz,<lb/> nicht gegeben war. Also nicht Anwendung bestehenden Rechts,<lb/> sondern Schaffung neuen Rechts. Das kann ja auch für einen<lb/> einzelnen Fall geschehen, durch den Gesetzgeber wie durch den<lb/> Richter, vom Gesetzgeber z. B., wenn, ohne Berufung auf eine<lb/> geltende Norm, beschlossen wird: die Unternehmung erhält das<lb/> Enteignungsrecht; der nächste zum Tode Verurteilte wird be-<lb/> gnadigt usw. Das sind <hi rendition="#g">individuelle</hi> Anordnungen, aber es<lb/><note xml:id="seg2pn_41_2" prev="#seg2pn_41_1" place="foot" n="2">lauten und doch die konkrete Anwendung eines Rechtssatzes sein kann; z. B.<lb/> alle Schweizer haben sich innert 14 Tagen impfen zu lassen. Deutlich<lb/> unterscheidet <hi rendition="#g">Rosin,</hi> Das Polizeiverordnungsrecht in Preußen, 2. A. (1895),<lb/> 12; nur setzt dieser Gegensatz, um nämlich folgerichtig durchgeführt werden<lb/> zu können, voraus, daß der anzuwendende Rechtssatz <hi rendition="#g">vollständig</hi> gegeben<lb/> ist, vgl. 17. <hi rendition="#g">Hänel,</hi> Das Gesetz im formellen und im materiellen Sinn<lb/> (1888) 135, 184, widerspricht mit Recht der Ansicht, daß der Gegensatz<lb/> des Allgemeinen und Besonderen hier entscheide; aber auch der Gegensatz<lb/> von objektivem und subjektivem Recht ist hier nicht verständlich; vgl.<lb/> oben S. 273 f. Richtigerweise sind Rechtssetzung und Rechtsanwendung<lb/> gegenüberzustellen, was allerdings beim „individuellen Rechtssatz“ nicht<lb/> durchführbar ist; <hi rendition="#g">wenn</hi> aber individuelle Rechtssätze zulässig sind, ent-<lb/> steht auch keine <hi rendition="#g">praktische</hi> Schwierigkeit über die Ausscheidung der bei-<lb/> den Funktionen. Vgl. <hi rendition="#g">Carré de Malberg</hi> a. a. O. I 365.</note><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [275/0290]
Die Rechtsanwendung.
spricht dem Gegensatz von abstrakt und konkret, des Begriff-
lichen und Individuellen. Gewiß ist auch der konkrete Einzelfall
spezieller als der abstrakte Begriff, die konkrete Entscheidung
spezieller als die angewendete Norm. Aber der konkrete Fall ist
bereits im abstrakten Begriff enthalten, die Entscheidung in der
Norm vorgezeichnet. Die Anwendung der allgemeinen Norm auf
den besonderen Fall ist nur eine logische Operation, die sachlich
nichts Neues schafft, während das Urteil nach der bekämpften
Meinung, ja, wie das Gesetz, ein Akt der Rechtssetzung, (oder
Rechts„erzeugung“) sein soll, nur im kleinen. Erfahrungsgemäß
kann es das unter Umständen in gewissem Sinn sein; nämlich,
wenn das Urteil zugleich, mangels gesetzlicher Norm, das Recht
(behufs Anwendung auf den einen Fall) festsetzt; aber dann ist
das Urteil eben mehr als Rechtsanwendung; es ist ein Akt „indi-
vidueller“ Rechtssetzung 1, also ein Akt, der sachlich etwas Neues
bringt, eine Verbindlichkeit schafft, die vorher, auch im Grundsatz,
nicht gegeben war. Also nicht Anwendung bestehenden Rechts,
sondern Schaffung neuen Rechts. Das kann ja auch für einen
einzelnen Fall geschehen, durch den Gesetzgeber wie durch den
Richter, vom Gesetzgeber z. B., wenn, ohne Berufung auf eine
geltende Norm, beschlossen wird: die Unternehmung erhält das
Enteignungsrecht; der nächste zum Tode Verurteilte wird be-
gnadigt usw. Das sind individuelle Anordnungen, aber es
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1 Was ein Widerspruch ist, nicht nur weil was rechtens ist, grund-
sätzlich, also abstrakt sein muß, sondern auch weil der Richter die ab-
strakte Regel nicht verbindlich machen kann; vgl. Lücken des Gesetzes 93.
2 lauten und doch die konkrete Anwendung eines Rechtssatzes sein kann; z. B.
alle Schweizer haben sich innert 14 Tagen impfen zu lassen. Deutlich
unterscheidet Rosin, Das Polizeiverordnungsrecht in Preußen, 2. A. (1895),
12; nur setzt dieser Gegensatz, um nämlich folgerichtig durchgeführt werden
zu können, voraus, daß der anzuwendende Rechtssatz vollständig gegeben
ist, vgl. 17. Hänel, Das Gesetz im formellen und im materiellen Sinn
(1888) 135, 184, widerspricht mit Recht der Ansicht, daß der Gegensatz
des Allgemeinen und Besonderen hier entscheide; aber auch der Gegensatz
von objektivem und subjektivem Recht ist hier nicht verständlich; vgl.
oben S. 273 f. Richtigerweise sind Rechtssetzung und Rechtsanwendung
gegenüberzustellen, was allerdings beim „individuellen Rechtssatz“ nicht
durchführbar ist; wenn aber individuelle Rechtssätze zulässig sind, ent-
steht auch keine praktische Schwierigkeit über die Ausscheidung der bei-
den Funktionen. Vgl. Carré de Malberg a. a. O. I 365.
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