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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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Das Völkerrecht.

Aus dem Mangel an Positivität erklärt sich die Unsicherheit
des Völkerrechts; es teilt mit dem "Vernunftrecht" jene Unsicher-
heit, die in der staatlichen Gemeinschaft eben durch den Macht-
spruch des Gesetzgebers, die formale Autorität des Staates, beseitigt
werden soll. Im Völkerrecht, sowohl in der Doktrin wie in der
Praxis, wird stets damit argumentiert, was gerecht und billig ist.
Nirgends fühlt sich das Naturrecht noch so zu Hause wie im
Völkerrecht1.

Unberechtigt ist hier, wie anderwärts, der Anspruch, aus der
Vernunft ein einmaliges, fertiges System von Rechtsnormen ab-
zuleiten; aber berechtigt ist der Anspruch, was jeweilen vernünftig

Recht, aber doch ein postuliertes Recht. Vgl. die Abhandlungen von
v. Bar, Grundlage und Kodifikation des Völkerrechts, und Schön, Zur
Lehre von den Grundlagen des Völkerrechts; beide im Archiv für Rechts-
und Wirtschaftsphilosophie VI 145, VIII 287; gewiß muß, wie v. Bar sagt,
unter den Staaten "irgend eine höhere Idee gelten, ein Recht, das in seinen
Grundlagen ihrer Willkür entrückt ist", aber es kann kein positives Recht
sein, da "die Erwägung nach der Natur der Sache" seine Quelle ist. Vgl.
oben S. 242. Sicher aber ist das Völkerrecht nicht ein "Produkt" des Wil-
lens der Staaten, wie Schön mit vielen anderen meint. -- Es ist deshalb
unbefriedigend, wenn eine Verfassung die "anerkannten Regeln des Völker-
rechts als bindende Bestandteile", als Landesrecht erklärt, wie in Art. 4 der
Deutschen Reichsverfassung. Was soll verbindlich sein? Und soll es nur
als Landesrecht verbindlich sein? Vgl. Max Fröhlich, Die Sittlichkeit
in völkerrechtlichen Verträgen (Diss. Zürich 1921) 33. Anschütz, Die Ver-
fassung des Deutschen Reiches, 5. A. (1926), 47; wie kann aber das Völker-
recht bindender Bestandteil des Deutschen Reichsrechts sein, wenn es, um
zu gelten, vom Deutschen Reich selbst anerkannt sein muß?
1 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 47:
"Das Völkerrecht ist im Grunde nichts anderes als das Naturrecht auf dem
allein ihm gebliebenen Gebiet seiner praktischen Wirksamkeit, nämlich zwi-
schen Volk und Volk, als wo es allein walten muß, weil sein stärkerer Sohn,
das positive Recht, da es eines Richters und Vollstreckers bedarf, nicht sich
geltend machen kann." Der Philosoph hat richtiger gesehen als viele Ju-
risten. Pufendorf, Elementa jurisprudentiae, lib. I, Def. 13, § 24. Tren-
delenburg,
Lücken im Völkerrecht, 1870, 3. -- Nur darf man unter
Naturrecht nicht bestimmte Rechtssätze verstehen; siehe oben S. 241; Berg-
bohm
a. a. O. 6; Hobhouse, Die metaphysische Staatstheorie (1924) 109:
"Die Beziehungen der Staaten untereinander sollen rechtlich sein, aber
da keine Macht über ihnen steht, um zu entscheiden, was recht ist, be-
wegen wir uns hier in der Region dessen, was sein soll." Ähnliche Bemer-
kung bei Meinecke, Die Idee der Staatsräson (1925) 19.
Das Völkerrecht.

Aus dem Mangel an Positivität erklärt sich die Unsicherheit
des Völkerrechts; es teilt mit dem „Vernunftrecht“ jene Unsicher-
heit, die in der staatlichen Gemeinschaft eben durch den Macht-
spruch des Gesetzgebers, die formale Autorität des Staates, beseitigt
werden soll. Im Völkerrecht, sowohl in der Doktrin wie in der
Praxis, wird stets damit argumentiert, was gerecht und billig ist.
Nirgends fühlt sich das Naturrecht noch so zu Hause wie im
Völkerrecht1.

Unberechtigt ist hier, wie anderwärts, der Anspruch, aus der
Vernunft ein einmaliges, fertiges System von Rechtsnormen ab-
zuleiten; aber berechtigt ist der Anspruch, was jeweilen vernünftig

Recht, aber doch ein postuliertes Recht. Vgl. die Abhandlungen von
v. Bar, Grundlage und Kodifikation des Völkerrechts, und Schön, Zur
Lehre von den Grundlagen des Völkerrechts; beide im Archiv für Rechts-
und Wirtschaftsphilosophie VI 145, VIII 287; gewiß muß, wie v. Bar sagt,
unter den Staaten „irgend eine höhere Idee gelten, ein Recht, das in seinen
Grundlagen ihrer Willkür entrückt ist“, aber es kann kein positives Recht
sein, da „die Erwägung nach der Natur der Sache“ seine Quelle ist. Vgl.
oben S. 242. Sicher aber ist das Völkerrecht nicht ein „Produkt“ des Wil-
lens der Staaten, wie Schön mit vielen anderen meint. — Es ist deshalb
unbefriedigend, wenn eine Verfassung die „anerkannten Regeln des Völker-
rechts als bindende Bestandteile“, als Landesrecht erklärt, wie in Art. 4 der
Deutschen Reichsverfassung. Was soll verbindlich sein? Und soll es nur
als Landesrecht verbindlich sein? Vgl. Max Fröhlich, Die Sittlichkeit
in völkerrechtlichen Verträgen (Diss. Zürich 1921) 33. Anschütz, Die Ver-
fassung des Deutschen Reiches, 5. A. (1926), 47; wie kann aber das Völker-
recht bindender Bestandteil des Deutschen Reichsrechts sein, wenn es, um
zu gelten, vom Deutschen Reich selbst anerkannt sein muß?
1 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 47:
„Das Völkerrecht ist im Grunde nichts anderes als das Naturrecht auf dem
allein ihm gebliebenen Gebiet seiner praktischen Wirksamkeit, nämlich zwi-
schen Volk und Volk, als wo es allein walten muß, weil sein stärkerer Sohn,
das positive Recht, da es eines Richters und Vollstreckers bedarf, nicht sich
geltend machen kann.“ Der Philosoph hat richtiger gesehen als viele Ju-
risten. Pufendorf, Elementa jurisprudentiae, lib. I, Def. 13, § 24. Tren-
delenburg,
Lücken im Völkerrecht, 1870, 3. — Nur darf man unter
Naturrecht nicht bestimmte Rechtssätze verstehen; siehe oben S. 241; Berg-
bohm
a. a. O. 6; Hobhouse, Die metaphysische Staatstheorie (1924) 109:
„Die Beziehungen der Staaten untereinander sollen rechtlich sein, aber
da keine Macht über ihnen steht, um zu entscheiden, was recht ist, be-
wegen wir uns hier in der Region dessen, was sein soll.“ Ähnliche Bemer-
kung bei Meinecke, Die Idee der Staatsräson (1925) 19.
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[381/0396] Das Völkerrecht. Aus dem Mangel an Positivität erklärt sich die Unsicherheit des Völkerrechts; es teilt mit dem „Vernunftrecht“ jene Unsicher- heit, die in der staatlichen Gemeinschaft eben durch den Macht- spruch des Gesetzgebers, die formale Autorität des Staates, beseitigt werden soll. Im Völkerrecht, sowohl in der Doktrin wie in der Praxis, wird stets damit argumentiert, was gerecht und billig ist. Nirgends fühlt sich das Naturrecht noch so zu Hause wie im Völkerrecht 1. Unberechtigt ist hier, wie anderwärts, der Anspruch, aus der Vernunft ein einmaliges, fertiges System von Rechtsnormen ab- zuleiten; aber berechtigt ist der Anspruch, was jeweilen vernünftig 2 1 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 47: „Das Völkerrecht ist im Grunde nichts anderes als das Naturrecht auf dem allein ihm gebliebenen Gebiet seiner praktischen Wirksamkeit, nämlich zwi- schen Volk und Volk, als wo es allein walten muß, weil sein stärkerer Sohn, das positive Recht, da es eines Richters und Vollstreckers bedarf, nicht sich geltend machen kann.“ Der Philosoph hat richtiger gesehen als viele Ju- risten. Pufendorf, Elementa jurisprudentiae, lib. I, Def. 13, § 24. Tren- delenburg, Lücken im Völkerrecht, 1870, 3. — Nur darf man unter Naturrecht nicht bestimmte Rechtssätze verstehen; siehe oben S. 241; Berg- bohm a. a. O. 6; Hobhouse, Die metaphysische Staatstheorie (1924) 109: „Die Beziehungen der Staaten untereinander sollen rechtlich sein, aber da keine Macht über ihnen steht, um zu entscheiden, was recht ist, be- wegen wir uns hier in der Region dessen, was sein soll.“ Ähnliche Bemer- kung bei Meinecke, Die Idee der Staatsräson (1925) 19. 2 Recht, aber doch ein postuliertes Recht. Vgl. die Abhandlungen von v. Bar, Grundlage und Kodifikation des Völkerrechts, und Schön, Zur Lehre von den Grundlagen des Völkerrechts; beide im Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie VI 145, VIII 287; gewiß muß, wie v. Bar sagt, unter den Staaten „irgend eine höhere Idee gelten, ein Recht, das in seinen Grundlagen ihrer Willkür entrückt ist“, aber es kann kein positives Recht sein, da „die Erwägung nach der Natur der Sache“ seine Quelle ist. Vgl. oben S. 242. Sicher aber ist das Völkerrecht nicht ein „Produkt“ des Wil- lens der Staaten, wie Schön mit vielen anderen meint. — Es ist deshalb unbefriedigend, wenn eine Verfassung die „anerkannten Regeln des Völker- rechts als bindende Bestandteile“, als Landesrecht erklärt, wie in Art. 4 der Deutschen Reichsverfassung. Was soll verbindlich sein? Und soll es nur als Landesrecht verbindlich sein? Vgl. Max Fröhlich, Die Sittlichkeit in völkerrechtlichen Verträgen (Diss. Zürich 1921) 33. Anschütz, Die Ver- fassung des Deutschen Reiches, 5. A. (1926), 47; wie kann aber das Völker- recht bindender Bestandteil des Deutschen Reichsrechts sein, wenn es, um zu gelten, vom Deutschen Reich selbst anerkannt sein muß?

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/396>, abgerufen am 23.11.2024.