Man muß sich vergegenwärtigen, was das bedeuten würde. Nicht nur die Erwägung ist entscheidend, daß jeder Vertragsinhalt, auch der ungerechteste, so wie die Parteien es gerade gewollt haben, verbindlich wäre; denn wieviel ungerechte Verträge stipuliert wer- den, untersuchen wir hier nicht, und es sind auch unter einem positiven (mangelhaften) Vertragsrecht recht ungerechte Verträge möglich. Entscheidend ist vielmehr die Erwägung, daß dann an- zunehmen wäre, eine Rechtsordnung bestimme, daß alles, was die ihr unterstellten Staaten irgendwie (äußerlich) vereinbaren, rechtsverbindlich sein soll. Die Rechtsordnung würde dann nur in nachgiebigem Recht bestehen, und zwar würde diese Ordnung lauten, daß es ganz dem Zufall individueller Entschließung der Rechtsunterworfenen, also dem subjektiven Belieben derjenigen, für die das Recht geschaffen sein soll, überlassen bleibt, zu ent- scheiden, welches ihre gegenseitigen Pflichten sein sollen. Man kann sich vergegenwärtigen, daß eine staatliche Rechtsordnung der Privatwillkür in gewissen wohlerwogenen Schranken freien Lauf lasse; aber man kann sich vernünftigerweise nicht vorstellen, daß sie alles dieser Willkür überlasse, denn dazu eine Rechtsordnung zu schaffen, hätte keinen Sinn; das wäre schlechterdings keine rechtliche Ordnung mehr, die Anspruch auf Geltung, auf Berech- tigung erheben könnte, weil die Willkür das Gegenteil der Rechts- idee ist.
Nicht nur die Logik (wie vorhin S. 393 ausgeführt), auch die Gerechtigkeit verlangt also, daß diese Frage der inhaltlichen Zu- lässigkeit der völkerrechtlichen Verträge, wie die ihrer formellen Gültigkeit, offen bleibe, wie alle grundsätzlichen Fragen des Völker- rechts1. Hier liegt die grundsätzliche Berechtigung der Zweifel, die so viele, namentlich Geschichtsschreiber und Politiker, aber auch Juristen, in die Verbindlichkeit und Heiligkeit der Staats-
sind (also nicht zum voraus wegbedungen werden können). Nicht aber ge- hören hierher die Regeln der Auslegung und der Ergänzung der (gültigen) Verträge; denn sie setzen die Möglichkeit vertraglicher Abrede voraus und lösen nur die Zweifel, die bei unvollständiger Ausübung dieses Rechtes (der Vertragsschließung) entstehen (vgl. oben S. 225).
1 Vgl. Giraud in der Revue generale du droit international public (1924) 25, der meint, ungerechte Verträge unter Staaten brauchten nicht gehalten zu werden.
III. Teil. Die rechtsgeschäftliche Verfassung.
Man muß sich vergegenwärtigen, was das bedeuten würde. Nicht nur die Erwägung ist entscheidend, daß jeder Vertragsinhalt, auch der ungerechteste, so wie die Parteien es gerade gewollt haben, verbindlich wäre; denn wieviel ungerechte Verträge stipuliert wer- den, untersuchen wir hier nicht, und es sind auch unter einem positiven (mangelhaften) Vertragsrecht recht ungerechte Verträge möglich. Entscheidend ist vielmehr die Erwägung, daß dann an- zunehmen wäre, eine Rechtsordnung bestimme, daß alles, was die ihr unterstellten Staaten irgendwie (äußerlich) vereinbaren, rechtsverbindlich sein soll. Die Rechtsordnung würde dann nur in nachgiebigem Recht bestehen, und zwar würde diese Ordnung lauten, daß es ganz dem Zufall individueller Entschließung der Rechtsunterworfenen, also dem subjektiven Belieben derjenigen, für die das Recht geschaffen sein soll, überlassen bleibt, zu ent- scheiden, welches ihre gegenseitigen Pflichten sein sollen. Man kann sich vergegenwärtigen, daß eine staatliche Rechtsordnung der Privatwillkür in gewissen wohlerwogenen Schranken freien Lauf lasse; aber man kann sich vernünftigerweise nicht vorstellen, daß sie alles dieser Willkür überlasse, denn dazu eine Rechtsordnung zu schaffen, hätte keinen Sinn; das wäre schlechterdings keine rechtliche Ordnung mehr, die Anspruch auf Geltung, auf Berech- tigung erheben könnte, weil die Willkür das Gegenteil der Rechts- idee ist.
Nicht nur die Logik (wie vorhin S. 393 ausgeführt), auch die Gerechtigkeit verlangt also, daß diese Frage der inhaltlichen Zu- lässigkeit der völkerrechtlichen Verträge, wie die ihrer formellen Gültigkeit, offen bleibe, wie alle grundsätzlichen Fragen des Völker- rechts1. Hier liegt die grundsätzliche Berechtigung der Zweifel, die so viele, namentlich Geschichtsschreiber und Politiker, aber auch Juristen, in die Verbindlichkeit und Heiligkeit der Staats-
sind (also nicht zum voraus wegbedungen werden können). Nicht aber ge- hören hierher die Regeln der Auslegung und der Ergänzung der (gültigen) Verträge; denn sie setzen die Möglichkeit vertraglicher Abrede voraus und lösen nur die Zweifel, die bei unvollständiger Ausübung dieses Rechtes (der Vertragsschließung) entstehen (vgl. oben S. 225).
1 Vgl. Giraud in der Revue générale du droit international public (1924) 25, der meint, ungerechte Verträge unter Staaten brauchten nicht gehalten zu werden.
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[394/0409]
III. Teil. Die rechtsgeschäftliche Verfassung.
Man muß sich vergegenwärtigen, was das bedeuten würde.
Nicht nur die Erwägung ist entscheidend, daß jeder Vertragsinhalt,
auch der ungerechteste, so wie die Parteien es gerade gewollt haben,
verbindlich wäre; denn wieviel ungerechte Verträge stipuliert wer-
den, untersuchen wir hier nicht, und es sind auch unter einem
positiven (mangelhaften) Vertragsrecht recht ungerechte Verträge
möglich. Entscheidend ist vielmehr die Erwägung, daß dann an-
zunehmen wäre, eine Rechtsordnung bestimme, daß alles, was
die ihr unterstellten Staaten irgendwie (äußerlich) vereinbaren,
rechtsverbindlich sein soll. Die Rechtsordnung würde dann nur
in nachgiebigem Recht bestehen, und zwar würde diese Ordnung
lauten, daß es ganz dem Zufall individueller Entschließung der
Rechtsunterworfenen, also dem subjektiven Belieben derjenigen,
für die das Recht geschaffen sein soll, überlassen bleibt, zu ent-
scheiden, welches ihre gegenseitigen Pflichten sein sollen. Man kann
sich vergegenwärtigen, daß eine staatliche Rechtsordnung der
Privatwillkür in gewissen wohlerwogenen Schranken freien Lauf
lasse; aber man kann sich vernünftigerweise nicht vorstellen, daß
sie alles dieser Willkür überlasse, denn dazu eine Rechtsordnung
zu schaffen, hätte keinen Sinn; das wäre schlechterdings keine
rechtliche Ordnung mehr, die Anspruch auf Geltung, auf Berech-
tigung erheben könnte, weil die Willkür das Gegenteil der Rechts-
idee ist.
Nicht nur die Logik (wie vorhin S. 393 ausgeführt), auch die
Gerechtigkeit verlangt also, daß diese Frage der inhaltlichen Zu-
lässigkeit der völkerrechtlichen Verträge, wie die ihrer formellen
Gültigkeit, offen bleibe, wie alle grundsätzlichen Fragen des Völker-
rechts 1. Hier liegt die grundsätzliche Berechtigung der Zweifel,
die so viele, namentlich Geschichtsschreiber und Politiker, aber
auch Juristen, in die Verbindlichkeit und Heiligkeit der Staats-
1
1 Vgl. Giraud in der Revue générale du droit international public
(1924) 25, der meint, ungerechte Verträge unter Staaten brauchten nicht
gehalten zu werden.
1 sind (also nicht zum voraus wegbedungen werden können). Nicht aber ge-
hören hierher die Regeln der Auslegung und der Ergänzung der (gültigen)
Verträge; denn sie setzen die Möglichkeit vertraglicher Abrede voraus und
lösen nur die Zweifel, die bei unvollständiger Ausübung dieses Rechtes (der
Vertragsschließung) entstehen (vgl. oben S. 225).
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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/409>, abgerufen am 16.07.2024.
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