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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht.
Stillschweigen der Parteien ab, so ist es unmöglich zu sagen, was
billigerweise hinzuergänzt werden soll. Folgerichtigerweise
muß man vielmehr das Unvollständige durch das ergänzen, was die
Parteien nach psychologischer Wahrscheinlichkeit hinzugefügt
hätten, wenn sie alles verabredet hätten. Wollte man aber eine
wirklich billige Ergänzung finden, so müßte man sie daraufhin
im Zusammenhalt mit dem ausdrücklich Verabredeten prüfen,
und man könnte sie nicht einheitlich für alle Fälle vorschreiben,
wo der tatsächliche Wille der Parteien nicht vollständig zu er-
mitteln ist. Die Vorschrift könnte dann nur lauten, daß der
rechtsgeschäftliche Wille in der für jeden Fall billigen Weise zu
ergänzen sei, ohne daß bestimmt würde wie. In verschiedenen
Fällen kann Verschiedenes zur Ergänzung gleich billig sein.

Allein kann man den Gedanken überhaupt folgerichtig durch-
führen: daß zwischen Vertragsparteien die Billigkeit gelten soll?
Das scheint mir kaum möglich. Nicht deshalb, weil es schwer ist,
die individuellen Umstände des Falles zu erfassen und abzuwägen;
das wäre keine grundsätzliche Schwierigkeit, sondern eine tech-
nische; sondern deshalb, weil man mit dieser zufälligen Remedur
nicht bessert, was dem Privatrechtsverkehr grundsätzlich an-
haftet: die Willkür. Was nützt es, wenn man dem A zu einer
billigen Ergänzung seines Kaufvertrages vom 26. November 1926
mit B verhilft, wenn hundert andere unverbessert bleiben und ihn
zu Boden drücken? Oder was hat es für einen Sinn, hier dem A
zu Hilfe zu kommen, während er in hundert anderen Fällen den
B geschunden hat? Oder: was nützt es, hier dem A beizustehen,
während der B und seine Gläubiger, nach vielem Mißgeschick,
diesen Vorteil dringend nötig hätten, um sich über Wasser zu
halten? Ist das Gericht überhaupt sicher, daß, wenn alle Verträge
so abgeschlossen würden, wie es sie für billig hält, Alle auf ihre
Rechnung kämen; Alle billig behandelt würden? Und wenn das
nicht zutrifft, was nützt es denn, die einzelnen Verträge "billig" er-
gänzt zu sehen, wenn das Gesamtergebnis doch willkürlich bleibt?

Es ist also immer ein unzulängliches Pflaster, von unberechen-
baren Wirkungen, wenn man vertragliche Abreden nach Billig-

und Größe seines Beitrages gleichen Anteil an Gewinn und Verlust habe,
ohne den Darlehens- oder Gesellschaftsvertrag mit seinen individuellen
Verumständungen zu kennen? Schweiz. OR. Art. 313, Abs. 1; 533, Abs. 1.

I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht.
Stillschweigen der Parteien ab, so ist es unmöglich zu sagen, was
billigerweise hinzuergänzt werden soll. Folgerichtigerweise
muß man vielmehr das Unvollständige durch das ergänzen, was die
Parteien nach psychologischer Wahrscheinlichkeit hinzugefügt
hätten, wenn sie alles verabredet hätten. Wollte man aber eine
wirklich billige Ergänzung finden, so müßte man sie daraufhin
im Zusammenhalt mit dem ausdrücklich Verabredeten prüfen,
und man könnte sie nicht einheitlich für alle Fälle vorschreiben,
wo der tatsächliche Wille der Parteien nicht vollständig zu er-
mitteln ist. Die Vorschrift könnte dann nur lauten, daß der
rechtsgeschäftliche Wille in der für jeden Fall billigen Weise zu
ergänzen sei, ohne daß bestimmt würde wie. In verschiedenen
Fällen kann Verschiedenes zur Ergänzung gleich billig sein.

Allein kann man den Gedanken überhaupt folgerichtig durch-
führen: daß zwischen Vertragsparteien die Billigkeit gelten soll?
Das scheint mir kaum möglich. Nicht deshalb, weil es schwer ist,
die individuellen Umstände des Falles zu erfassen und abzuwägen;
das wäre keine grundsätzliche Schwierigkeit, sondern eine tech-
nische; sondern deshalb, weil man mit dieser zufälligen Remedur
nicht bessert, was dem Privatrechtsverkehr grundsätzlich an-
haftet: die Willkür. Was nützt es, wenn man dem A zu einer
billigen Ergänzung seines Kaufvertrages vom 26. November 1926
mit B verhilft, wenn hundert andere unverbessert bleiben und ihn
zu Boden drücken? Oder was hat es für einen Sinn, hier dem A
zu Hilfe zu kommen, während er in hundert anderen Fällen den
B geschunden hat? Oder: was nützt es, hier dem A beizustehen,
während der B und seine Gläubiger, nach vielem Mißgeschick,
diesen Vorteil dringend nötig hätten, um sich über Wasser zu
halten? Ist das Gericht überhaupt sicher, daß, wenn alle Verträge
so abgeschlossen würden, wie es sie für billig hält, Alle auf ihre
Rechnung kämen; Alle billig behandelt würden? Und wenn das
nicht zutrifft, was nützt es denn, die einzelnen Verträge „billig“ er-
gänzt zu sehen, wenn das Gesamtergebnis doch willkürlich bleibt?

Es ist also immer ein unzulängliches Pflaster, von unberechen-
baren Wirkungen, wenn man vertragliche Abreden nach Billig-

und Größe seines Beitrages gleichen Anteil an Gewinn und Verlust habe,
ohne den Darlehens- oder Gesellschaftsvertrag mit seinen individuellen
Verumständungen zu kennen? Schweiz. OR. Art. 313, Abs. 1; 533, Abs. 1.
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[40/0055] I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht. Stillschweigen der Parteien ab, so ist es unmöglich zu sagen, was billigerweise hinzuergänzt werden soll. Folgerichtigerweise muß man vielmehr das Unvollständige durch das ergänzen, was die Parteien nach psychologischer Wahrscheinlichkeit hinzugefügt hätten, wenn sie alles verabredet hätten. Wollte man aber eine wirklich billige Ergänzung finden, so müßte man sie daraufhin im Zusammenhalt mit dem ausdrücklich Verabredeten prüfen, und man könnte sie nicht einheitlich für alle Fälle vorschreiben, wo der tatsächliche Wille der Parteien nicht vollständig zu er- mitteln ist. Die Vorschrift könnte dann nur lauten, daß der rechtsgeschäftliche Wille in der für jeden Fall billigen Weise zu ergänzen sei, ohne daß bestimmt würde wie. In verschiedenen Fällen kann Verschiedenes zur Ergänzung gleich billig sein. Allein kann man den Gedanken überhaupt folgerichtig durch- führen: daß zwischen Vertragsparteien die Billigkeit gelten soll? Das scheint mir kaum möglich. Nicht deshalb, weil es schwer ist, die individuellen Umstände des Falles zu erfassen und abzuwägen; das wäre keine grundsätzliche Schwierigkeit, sondern eine tech- nische; sondern deshalb, weil man mit dieser zufälligen Remedur nicht bessert, was dem Privatrechtsverkehr grundsätzlich an- haftet: die Willkür. Was nützt es, wenn man dem A zu einer billigen Ergänzung seines Kaufvertrages vom 26. November 1926 mit B verhilft, wenn hundert andere unverbessert bleiben und ihn zu Boden drücken? Oder was hat es für einen Sinn, hier dem A zu Hilfe zu kommen, während er in hundert anderen Fällen den B geschunden hat? Oder: was nützt es, hier dem A beizustehen, während der B und seine Gläubiger, nach vielem Mißgeschick, diesen Vorteil dringend nötig hätten, um sich über Wasser zu halten? Ist das Gericht überhaupt sicher, daß, wenn alle Verträge so abgeschlossen würden, wie es sie für billig hält, Alle auf ihre Rechnung kämen; Alle billig behandelt würden? Und wenn das nicht zutrifft, was nützt es denn, die einzelnen Verträge „billig“ er- gänzt zu sehen, wenn das Gesamtergebnis doch willkürlich bleibt? Es ist also immer ein unzulängliches Pflaster, von unberechen- baren Wirkungen, wenn man vertragliche Abreden nach Billig- 1 1 und Größe seines Beitrages gleichen Anteil an Gewinn und Verlust habe, ohne den Darlehens- oder Gesellschaftsvertrag mit seinen individuellen Verumständungen zu kennen? Schweiz. OR. Art. 313, Abs. 1; 533, Abs. 1.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/55>, abgerufen am 21.11.2024.