Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite

Chroniken u. a. Productionen von Guilielmus Appulus an3. Abschnitt.
begegnet man oft einem emsigen Studium des Virgil,
Ovid, Lucan, Statius und Claudian, allein die antike
Form bleibt bloße Sache der Gelehrsamkeit, gerade wie der
antike Stoff bei Sammelschriftstellern in der Weise des
Vincenz von Beauvais oder bei dem Mythologen und Alle-
goriker Alanus ab Insulis. Die Renaissance ist eben nicht
stückweise Nachahmung und Aufsammlung, sondern Wieder-
geburt, und eine solche findet sich in der That in jenen
Gedichten des unbekannten Clericus aus dem XII. Jahr-
hundert.

Die große, allgemeine Parteinahme der Italiener fürDas Alterthum
im XIV. Ih.

das Alterthum aber beginnt erst mit dem XIV. Jahrhundert.
Es war dazu eine Entwicklung des städtischen Lebens
nothwendig, wie sie nur in Italien und erst jetzt vorkam:
Zusammenwohnen und thatsächliche Gleichheit von Adlichen
und Bürgern; Bildung einer allgemeinen Gesellschaft (S. 142),
welche sich bildungsbedürftig fühlte und Muße und Mittel
übrig hatte. Die Bildung aber, sobald sie sich von der
Phantasiewelt des Mittelalters losmachen wollte, konnte
nicht plötzlich durch bloße Empirie zur Erkenntniß der
physischen und geistigen Welt durchdringen, sie bedurfte
eines Führers, und als solchen bot sich das classische Alter-
thum dar, mit seiner Fülle objectiver, evidenter Wahrheit
in allen Gebieten des Geistes. Man nahm von ihm Form
und Stoff mit Dank und Bewunderung an; es wurde
einstweilen der Hauptinhalt jener Bildung 1). Auch die
allgemeinen Verhältnisse Italiens waren der Sache günstig;
das Kaiserthum des Mittelalters hatte seit dem Untergang
der Hohenstaufen entweder auf Italien verzichtet oder
konnte sich daselbst nicht halten; das Papstthum war nach

1) Wie das Alterthum in allen höhern Gebieten des Lebens als Lehrer
und Führer dienen könne, schildert z. B. in rascher Uebersicht Aeneas
Sylvius (opera p. 603 in der Epist. 105, an Erzherzog Sigismund).

Chroniken u. a. Productionen von Guilielmus Appulus an3. Abſchnitt.
begegnet man oft einem emſigen Studium des Virgil,
Ovid, Lucan, Statius und Claudian, allein die antike
Form bleibt bloße Sache der Gelehrſamkeit, gerade wie der
antike Stoff bei Sammelſchriftſtellern in der Weiſe des
Vincenz von Beauvais oder bei dem Mythologen und Alle-
goriker Alanus ab Inſulis. Die Renaiſſance iſt eben nicht
ſtückweiſe Nachahmung und Aufſammlung, ſondern Wieder-
geburt, und eine ſolche findet ſich in der That in jenen
Gedichten des unbekannten Clericus aus dem XII. Jahr-
hundert.

Die große, allgemeine Parteinahme der Italiener fürDas Alterthum
im XIV. Ih.

das Alterthum aber beginnt erſt mit dem XIV. Jahrhundert.
Es war dazu eine Entwicklung des ſtädtiſchen Lebens
nothwendig, wie ſie nur in Italien und erſt jetzt vorkam:
Zuſammenwohnen und thatſächliche Gleichheit von Adlichen
und Bürgern; Bildung einer allgemeinen Geſellſchaft (S. 142),
welche ſich bildungsbedürftig fühlte und Muße und Mittel
übrig hatte. Die Bildung aber, ſobald ſie ſich von der
Phantaſiewelt des Mittelalters losmachen wollte, konnte
nicht plötzlich durch bloße Empirie zur Erkenntniß der
phyſiſchen und geiſtigen Welt durchdringen, ſie bedurfte
eines Führers, und als ſolchen bot ſich das claſſiſche Alter-
thum dar, mit ſeiner Fülle objectiver, evidenter Wahrheit
in allen Gebieten des Geiſtes. Man nahm von ihm Form
und Stoff mit Dank und Bewunderung an; es wurde
einſtweilen der Hauptinhalt jener Bildung 1). Auch die
allgemeinen Verhältniſſe Italiens waren der Sache günſtig;
das Kaiſerthum des Mittelalters hatte ſeit dem Untergang
der Hohenſtaufen entweder auf Italien verzichtet oder
konnte ſich daſelbſt nicht halten; das Papſtthum war nach

1) Wie das Alterthum in allen höhern Gebieten des Lebens als Lehrer
und Führer dienen könne, ſchildert z. B. in raſcher Ueberſicht Aeneas
Sylvius (opera p. 603 in der Epiſt. 105, an Erzherzog Sigismund).
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0185" n="175"/>
Chroniken u. a. Productionen von Guilielmus Appulus an<note place="right"><hi rendition="#b"><hi rendition="#u">3. Ab&#x017F;chnitt.</hi></hi></note><lb/>
begegnet man oft einem em&#x017F;igen Studium des Virgil,<lb/>
Ovid, Lucan, Statius und Claudian, allein die antike<lb/>
Form bleibt bloße Sache der Gelehr&#x017F;amkeit, gerade wie der<lb/>
antike Stoff bei Sammel&#x017F;chrift&#x017F;tellern in der Wei&#x017F;e des<lb/>
Vincenz von Beauvais oder bei dem Mythologen und Alle-<lb/>
goriker Alanus ab In&#x017F;ulis. Die Renai&#x017F;&#x017F;ance i&#x017F;t eben nicht<lb/>
&#x017F;tückwei&#x017F;e Nachahmung und Auf&#x017F;ammlung, &#x017F;ondern Wieder-<lb/>
geburt, und eine &#x017F;olche findet &#x017F;ich in der That in jenen<lb/>
Gedichten des unbekannten Clericus aus dem <hi rendition="#aq">XII.</hi> Jahr-<lb/>
hundert.</p><lb/>
        <p>Die große, allgemeine Parteinahme der Italiener für<note place="right">Das Alterthum<lb/>
im <hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ih.</note><lb/>
das Alterthum aber beginnt er&#x017F;t mit dem <hi rendition="#aq">XIV.</hi> Jahrhundert.<lb/>
Es war dazu eine Entwicklung des &#x017F;tädti&#x017F;chen Lebens<lb/>
nothwendig, wie &#x017F;ie nur in Italien und er&#x017F;t jetzt vorkam:<lb/>
Zu&#x017F;ammenwohnen und that&#x017F;ächliche Gleichheit von Adlichen<lb/>
und Bürgern; Bildung einer allgemeinen Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft (S. 142),<lb/>
welche &#x017F;ich bildungsbedürftig fühlte und Muße und Mittel<lb/>
übrig hatte. Die Bildung aber, &#x017F;obald &#x017F;ie &#x017F;ich von der<lb/>
Phanta&#x017F;iewelt des Mittelalters losmachen wollte, konnte<lb/>
nicht plötzlich durch bloße Empirie zur Erkenntniß der<lb/>
phy&#x017F;i&#x017F;chen und gei&#x017F;tigen Welt durchdringen, &#x017F;ie bedurfte<lb/>
eines Führers, und als &#x017F;olchen bot &#x017F;ich das cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Alter-<lb/>
thum dar, mit &#x017F;einer Fülle objectiver, evidenter Wahrheit<lb/>
in allen Gebieten des Gei&#x017F;tes. Man nahm von ihm Form<lb/>
und Stoff mit Dank und Bewunderung an; es wurde<lb/>
ein&#x017F;tweilen der Hauptinhalt jener Bildung <note place="foot" n="1)">Wie das Alterthum in allen höhern Gebieten des Lebens als Lehrer<lb/>
und Führer dienen könne, &#x017F;childert z. B. in ra&#x017F;cher Ueber&#x017F;icht Aeneas<lb/>
Sylvius (<hi rendition="#aq">opera p. 603</hi> in der Epi&#x017F;t. 105, an Erzherzog Sigismund).</note>. Auch die<lb/>
allgemeinen Verhältni&#x017F;&#x017F;e Italiens waren der Sache gün&#x017F;tig;<lb/>
das Kai&#x017F;erthum des Mittelalters hatte &#x017F;eit dem Untergang<lb/>
der Hohen&#x017F;taufen entweder auf Italien verzichtet oder<lb/>
konnte &#x017F;ich da&#x017F;elb&#x017F;t nicht halten; das Pap&#x017F;tthum war nach<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[175/0185] Chroniken u. a. Productionen von Guilielmus Appulus an begegnet man oft einem emſigen Studium des Virgil, Ovid, Lucan, Statius und Claudian, allein die antike Form bleibt bloße Sache der Gelehrſamkeit, gerade wie der antike Stoff bei Sammelſchriftſtellern in der Weiſe des Vincenz von Beauvais oder bei dem Mythologen und Alle- goriker Alanus ab Inſulis. Die Renaiſſance iſt eben nicht ſtückweiſe Nachahmung und Aufſammlung, ſondern Wieder- geburt, und eine ſolche findet ſich in der That in jenen Gedichten des unbekannten Clericus aus dem XII. Jahr- hundert. 3. Abſchnitt. Die große, allgemeine Parteinahme der Italiener für das Alterthum aber beginnt erſt mit dem XIV. Jahrhundert. Es war dazu eine Entwicklung des ſtädtiſchen Lebens nothwendig, wie ſie nur in Italien und erſt jetzt vorkam: Zuſammenwohnen und thatſächliche Gleichheit von Adlichen und Bürgern; Bildung einer allgemeinen Geſellſchaft (S. 142), welche ſich bildungsbedürftig fühlte und Muße und Mittel übrig hatte. Die Bildung aber, ſobald ſie ſich von der Phantaſiewelt des Mittelalters losmachen wollte, konnte nicht plötzlich durch bloße Empirie zur Erkenntniß der phyſiſchen und geiſtigen Welt durchdringen, ſie bedurfte eines Führers, und als ſolchen bot ſich das claſſiſche Alter- thum dar, mit ſeiner Fülle objectiver, evidenter Wahrheit in allen Gebieten des Geiſtes. Man nahm von ihm Form und Stoff mit Dank und Bewunderung an; es wurde einſtweilen der Hauptinhalt jener Bildung 1). Auch die allgemeinen Verhältniſſe Italiens waren der Sache günſtig; das Kaiſerthum des Mittelalters hatte ſeit dem Untergang der Hohenſtaufen entweder auf Italien verzichtet oder konnte ſich daſelbſt nicht halten; das Papſtthum war nach Das Alterthum im XIV. Ih. 1) Wie das Alterthum in allen höhern Gebieten des Lebens als Lehrer und Führer dienen könne, ſchildert z. B. in raſcher Ueberſicht Aeneas Sylvius (opera p. 603 in der Epiſt. 105, an Erzherzog Sigismund).

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/185
Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/185>, abgerufen am 21.11.2024.