Schaden zu thun. Freilich nimmt es sich sonderbar aus,4. Abschnitt. wenn damit manövrirt wird in einer Zeit, da bereits nicht nur die exacte Schilderung, sondern auch eine unvergäng- liche Kunst und Poesie den vollständigen Menschen in seinem tiefsten Wesen wie in seinen characteristischen Aeußerlichkei- ten darzustellen vermochten. Fast komisch lautet es, wenn ein sonst tüchtiger Beobachter Clemens VII. zwar für me- lancholischen Temperamentes hält, sein Urtheil aber dem- jenigen der Aerzte unterordnet, welche in dem Papste eher ein sanguinisch-cholerisches Temperament erkennen 1). Oder wenn wir erfahren, daß derselbe Gaston de Foix, der Sieger von Ravenna, welchen Giorgione malte und Bambaja meißelte, und welchen alle Historiker schildern, ein satur- nisches Gemüth gehabt habe 2). Freilich wollen die, welche Solches melden, damit etwas sehr Bestimmtes bezeichnen; wunderlich und überlebt erscheinen nur die Kategorien, durch welche sie ihre Meinung ausdrücken.
Im Reiche der freien geistigen Schilderung empfangenDie Dichter. uns zunächst die großen Dichter des XIV. Jahrhunderts.
Wenn man aus der ganzen abendländischen Hof- und Ritterdichtung der beiden vorhergehenden Jahrhunderte die Perlen zusammensucht, so wird eine Summe von herrlichen Ahnungen und Einzelbildern von Seelenbewegungen zum Vorschein kommen, welche den Italienern auf den ersten Blick den Preis streitig zu machen scheint. Selbst abgesehen von der ganzen Lyrik giebt schon der einzige Gottfried von Straßburg mit "Tristan und Isolde" ein Bild der Leiden- schaft, welches unvergängliche Züge hat. Allein diese Per-
1)Tomm. Gar, relaz. della corte di Roma I, p. 278. 279. In der Rel. des Soriano vom J. 1533.
2)Prato, arch. stor. III, p. 295, s. -- Dem Sinne nach ist es so- wohl "unglücklich" als "unglückbringend". -- Das Verhältniß der Planeten zu den menschlichen Characteren überhaupt s. bei Corn. Agrippa, de occulta philosophia, c. 52.
Cultur der Renaissance. 20
Schaden zu thun. Freilich nimmt es ſich ſonderbar aus,4. Abſchnitt. wenn damit manövrirt wird in einer Zeit, da bereits nicht nur die exacte Schilderung, ſondern auch eine unvergäng- liche Kunſt und Poeſie den vollſtändigen Menſchen in ſeinem tiefſten Weſen wie in ſeinen characteriſtiſchen Aeußerlichkei- ten darzuſtellen vermochten. Faſt komiſch lautet es, wenn ein ſonſt tüchtiger Beobachter Clemens VII. zwar für me- lancholiſchen Temperamentes hält, ſein Urtheil aber dem- jenigen der Aerzte unterordnet, welche in dem Papſte eher ein ſanguiniſch-choleriſches Temperament erkennen 1). Oder wenn wir erfahren, daß derſelbe Gaſton de Foix, der Sieger von Ravenna, welchen Giorgione malte und Bambaja meißelte, und welchen alle Hiſtoriker ſchildern, ein ſatur- niſches Gemüth gehabt habe 2). Freilich wollen die, welche Solches melden, damit etwas ſehr Beſtimmtes bezeichnen; wunderlich und überlebt erſcheinen nur die Kategorien, durch welche ſie ihre Meinung ausdrücken.
Im Reiche der freien geiſtigen Schilderung empfangenDie Dichter. uns zunächſt die großen Dichter des XIV. Jahrhunderts.
Wenn man aus der ganzen abendländiſchen Hof- und Ritterdichtung der beiden vorhergehenden Jahrhunderte die Perlen zuſammenſucht, ſo wird eine Summe von herrlichen Ahnungen und Einzelbildern von Seelenbewegungen zum Vorſchein kommen, welche den Italienern auf den erſten Blick den Preis ſtreitig zu machen ſcheint. Selbſt abgeſehen von der ganzen Lyrik giebt ſchon der einzige Gottfried von Straßburg mit „Triſtan und Iſolde“ ein Bild der Leiden- ſchaft, welches unvergängliche Züge hat. Allein dieſe Per-
1)Tomm. Gar, relaz. della corte di Roma I, p. 278. 279. In der Rel. des Soriano vom J. 1533.
2)Prato, arch. stor. III, p. 295, s. — Dem Sinne nach iſt es ſo- wohl „unglücklich“ als „unglückbringend“. — Das Verhältniß der Planeten zu den menſchlichen Characteren überhaupt ſ. bei Corn. Agrippa, de occulta philosophia, c. 52.
Cultur der Renaiſſance. 20
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[305/0315]
Schaden zu thun. Freilich nimmt es ſich ſonderbar aus,
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liche Kunſt und Poeſie den vollſtändigen Menſchen in ſeinem
tiefſten Weſen wie in ſeinen characteriſtiſchen Aeußerlichkei-
ten darzuſtellen vermochten. Faſt komiſch lautet es, wenn
ein ſonſt tüchtiger Beobachter Clemens VII. zwar für me-
lancholiſchen Temperamentes hält, ſein Urtheil aber dem-
jenigen der Aerzte unterordnet, welche in dem Papſte eher
ein ſanguiniſch-choleriſches Temperament erkennen 1). Oder
wenn wir erfahren, daß derſelbe Gaſton de Foix, der Sieger
von Ravenna, welchen Giorgione malte und Bambaja
meißelte, und welchen alle Hiſtoriker ſchildern, ein ſatur-
niſches Gemüth gehabt habe 2). Freilich wollen die, welche
Solches melden, damit etwas ſehr Beſtimmtes bezeichnen;
wunderlich und überlebt erſcheinen nur die Kategorien, durch
welche ſie ihre Meinung ausdrücken.
4. Abſchnitt.
Im Reiche der freien geiſtigen Schilderung empfangen
uns zunächſt die großen Dichter des XIV. Jahrhunderts.
Die Dichter.
Wenn man aus der ganzen abendländiſchen Hof- und
Ritterdichtung der beiden vorhergehenden Jahrhunderte die
Perlen zuſammenſucht, ſo wird eine Summe von herrlichen
Ahnungen und Einzelbildern von Seelenbewegungen zum
Vorſchein kommen, welche den Italienern auf den erſten
Blick den Preis ſtreitig zu machen ſcheint. Selbſt abgeſehen
von der ganzen Lyrik giebt ſchon der einzige Gottfried von
Straßburg mit „Triſtan und Iſolde“ ein Bild der Leiden-
ſchaft, welches unvergängliche Züge hat. Allein dieſe Per-
1) Tomm. Gar, relaz. della corte di Roma I, p. 278. 279. In
der Rel. des Soriano vom J. 1533.
2) Prato, arch. stor. III, p. 295, s. — Dem Sinne nach iſt es ſo-
wohl „unglücklich“ als „unglückbringend“. — Das Verhältniß der
Planeten zu den menſchlichen Characteren überhaupt ſ. bei Corn.
Agrippa, de occulta philosophia, c. 52.
Cultur der Renaiſſance. 20
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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/315>, abgerufen am 22.11.2024.
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