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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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Das Gottesbewußtsein der frühern Zeit hatte seine6. Abschnitt.
Quelle und seinen Anhalt im Christenthum und in dessen
äußerer Machtgestalt, der Kirche gehabt. Als die Kirche
ausartete, hätte die Menschheit distinguiren und ihre Reli-
gion trotz Allem behaupten sollen. Aber ein solches Po-
stulat läßt sich leichter aufstellen als erfüllen. Nicht jedes
Volk ist ruhig oder stumpfsinnig genug, um einen dauernden
Widerspruch zwischen einem Princip und dessen äußerer
Darstellung zu ertragen. Die sinkende Kirche ist es, auf
welche jene schwerste Verantwortlichkeit fällt, die je in der
Geschichte vorgekommen ist: sie hat eine getrübte und zum
Vortheil ihrer Allmacht entstellte Lehre mit allen Mitteln
der Gewalt als reine Wahrheit durchgesetzt, und im Gefühl
ihrer Unantastbarkeit sich der schwersten Entsittlichung über-
lassen; sie hat, um sich in solchem Zustande zu behaupten,
gegen den Geist und das Gewissen der Völker tödtliche
Streiche geführt und viele von den Höherbegabten, welche
sich ihr innerlich entzogen, dem Unglauben und der Ver-
bitterung in die Arme getrieben.

Hier stellt sich uns auf dem Wege die Frage entgegen:Mangel einer
Reformation.

warum das geistig so mächtige Italien nicht kräftiger gegen
die Hierarchie reagirt, warum es nicht eine Reformation gleich
der deutschen und vor derselben zu Stande gebracht habe?

Es giebt eine scheinbare Antwort: die Stimmung Ita-
liens habe es nicht über die Verneinung der Hierarchie
hinausgebracht, während Ursprung und Unbezwingbarkeit
der deutschen Reformation den positiven Lehren, zumal von
der Rechtfertigung durch den Glauben und vom Unwerth
der guten Werke, verdankt werde.

Es ist gewiß, daß diese Lehren erst von Deutschland
her auf Italien wirkten, und zwar viel zu spät, als die
spanische Macht bei weitem groß genug war, um theils
unmittelbar, theils durch das Papstthum und dessen Werk-
zeuge Alles zu erdrücken. Aber schon in den frühern reli-
giösen Bewegungen Italiens von den Mystikern des XIII.

Das Gottesbewußtſein der frühern Zeit hatte ſeine6. Abſchnitt.
Quelle und ſeinen Anhalt im Chriſtenthum und in deſſen
äußerer Machtgeſtalt, der Kirche gehabt. Als die Kirche
ausartete, hätte die Menſchheit diſtinguiren und ihre Reli-
gion trotz Allem behaupten ſollen. Aber ein ſolches Po-
ſtulat läßt ſich leichter aufſtellen als erfüllen. Nicht jedes
Volk iſt ruhig oder ſtumpfſinnig genug, um einen dauernden
Widerſpruch zwiſchen einem Princip und deſſen äußerer
Darſtellung zu ertragen. Die ſinkende Kirche iſt es, auf
welche jene ſchwerſte Verantwortlichkeit fällt, die je in der
Geſchichte vorgekommen iſt: ſie hat eine getrübte und zum
Vortheil ihrer Allmacht entſtellte Lehre mit allen Mitteln
der Gewalt als reine Wahrheit durchgeſetzt, und im Gefühl
ihrer Unantaſtbarkeit ſich der ſchwerſten Entſittlichung über-
laſſen; ſie hat, um ſich in ſolchem Zuſtande zu behaupten,
gegen den Geiſt und das Gewiſſen der Völker tödtliche
Streiche geführt und viele von den Höherbegabten, welche
ſich ihr innerlich entzogen, dem Unglauben und der Ver-
bitterung in die Arme getrieben.

Hier ſtellt ſich uns auf dem Wege die Frage entgegen:Mangel einer
Reformation.

warum das geiſtig ſo mächtige Italien nicht kräftiger gegen
die Hierarchie reagirt, warum es nicht eine Reformation gleich
der deutſchen und vor derſelben zu Stande gebracht habe?

Es giebt eine ſcheinbare Antwort: die Stimmung Ita-
liens habe es nicht über die Verneinung der Hierarchie
hinausgebracht, während Urſprung und Unbezwingbarkeit
der deutſchen Reformation den poſitiven Lehren, zumal von
der Rechtfertigung durch den Glauben und vom Unwerth
der guten Werke, verdankt werde.

Es iſt gewiß, daß dieſe Lehren erſt von Deutſchland
her auf Italien wirkten, und zwar viel zu ſpät, als die
ſpaniſche Macht bei weitem groß genug war, um theils
unmittelbar, theils durch das Papſtthum und deſſen Werk-
zeuge Alles zu erdrücken. Aber ſchon in den frühern reli-
giöſen Bewegungen Italiens von den Myſtikern des XIII.

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[457/0467] Das Gottesbewußtſein der frühern Zeit hatte ſeine Quelle und ſeinen Anhalt im Chriſtenthum und in deſſen äußerer Machtgeſtalt, der Kirche gehabt. Als die Kirche ausartete, hätte die Menſchheit diſtinguiren und ihre Reli- gion trotz Allem behaupten ſollen. Aber ein ſolches Po- ſtulat läßt ſich leichter aufſtellen als erfüllen. Nicht jedes Volk iſt ruhig oder ſtumpfſinnig genug, um einen dauernden Widerſpruch zwiſchen einem Princip und deſſen äußerer Darſtellung zu ertragen. Die ſinkende Kirche iſt es, auf welche jene ſchwerſte Verantwortlichkeit fällt, die je in der Geſchichte vorgekommen iſt: ſie hat eine getrübte und zum Vortheil ihrer Allmacht entſtellte Lehre mit allen Mitteln der Gewalt als reine Wahrheit durchgeſetzt, und im Gefühl ihrer Unantaſtbarkeit ſich der ſchwerſten Entſittlichung über- laſſen; ſie hat, um ſich in ſolchem Zuſtande zu behaupten, gegen den Geiſt und das Gewiſſen der Völker tödtliche Streiche geführt und viele von den Höherbegabten, welche ſich ihr innerlich entzogen, dem Unglauben und der Ver- bitterung in die Arme getrieben. 6. Abſchnitt. Hier ſtellt ſich uns auf dem Wege die Frage entgegen: warum das geiſtig ſo mächtige Italien nicht kräftiger gegen die Hierarchie reagirt, warum es nicht eine Reformation gleich der deutſchen und vor derſelben zu Stande gebracht habe? Mangel einer Reformation. Es giebt eine ſcheinbare Antwort: die Stimmung Ita- liens habe es nicht über die Verneinung der Hierarchie hinausgebracht, während Urſprung und Unbezwingbarkeit der deutſchen Reformation den poſitiven Lehren, zumal von der Rechtfertigung durch den Glauben und vom Unwerth der guten Werke, verdankt werde. Es iſt gewiß, daß dieſe Lehren erſt von Deutſchland her auf Italien wirkten, und zwar viel zu ſpät, als die ſpaniſche Macht bei weitem groß genug war, um theils unmittelbar, theils durch das Papſtthum und deſſen Werk- zeuge Alles zu erdrücken. Aber ſchon in den frühern reli- giöſen Bewegungen Italiens von den Myſtikern des XIII.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/467>, abgerufen am 27.11.2024.