tungsvoll genug, allein an geistiger Vollständigkeit, an viel-1. Abschnitt. seitiger Begründung des Herganges sind die Florentiner allen unendlich überlegen. Adelsherrschaft, Tyrannis, Kämpfe des Mittelstandes mit dem Proletariat, volle, halbe und Scheindemocratie, Primat eines Hauses, Theokratie (mit Savonarola), bis auf jene Mischformen, welche das me- diceische Gewaltfürstenthum vorbereiteten, Alles wird so beschrieben, daß die innersten Beweggründe der Betheiligten dem Lichte bloß liegen 1). Endlich faßt Macchiavelli inDie Geschicht- schreiber. seinen florentinischen Geschichten (bis 1492) seine Vater- stadt vollkommen als ein lebendiges Wesen und ihren Ent- wicklungsgang als einen individuell naturgemäßen auf; der erste unter den Modernen, der dieses so vermocht hat. Es liegt außer unserm Bereich, zu untersuchen ob und in welchen Punkten Macchiavell willkürlich verfahren sein mag, wie er im Leben des Castruccio Castracane -- einem von ihm eigenmächtig colorirten Tyrannentypus -- notorischer Weise gethan hat. Es könnte in den Storie fiorentine gegen jede Zeile irgend etwas einzuwenden sein und ihr hoher, ja einziger Werth im Ganzen bliebe dennoch beste- hen. Und seine Zeitgenossen und Fortsetzer: Jacopo Pitti, Guicciardini, Segni, Varchi, Vettori, welch ein Kranz von erlauchten Namen! Und welche Geschichte ist es, die diese Meister schildern! Die letzten Jahrzehnde der florentinischen Republik, ein unvergeßlich großes Schauspiel, sind uns hier vollständig überliefert. In dieser massenhaften Tradition über den Untergang des höchsten, eigenthümlichsten Lebens der damaligen Welt mag der Eine nichts erkennen als eine Sammlung von Curiositäten ersten Ranges, der Andere mit teuflischer Freude den Bankerott des Edeln und Er-
1) Was Cosimo (1433--1465) und seinen Enkel Lorenzo magnifico (st. 1492) betrifft, so verzichtet der Verfasser auf jedes Urtheil über die innere Politik derselben. Eine anklagende Stimme von Gewicht (Gino Capponi) s. im Archiv. stor. I, p. 315, s.
6*
tungsvoll genug, allein an geiſtiger Vollſtändigkeit, an viel-1. Abſchnitt. ſeitiger Begründung des Herganges ſind die Florentiner allen unendlich überlegen. Adelsherrſchaft, Tyrannis, Kämpfe des Mittelſtandes mit dem Proletariat, volle, halbe und Scheindemocratie, Primat eines Hauſes, Theokratie (mit Savonarola), bis auf jene Miſchformen, welche das me- diceiſche Gewaltfürſtenthum vorbereiteten, Alles wird ſo beſchrieben, daß die innerſten Beweggründe der Betheiligten dem Lichte bloß liegen 1). Endlich faßt Macchiavelli inDie Geſchicht- ſchreiber. ſeinen florentiniſchen Geſchichten (bis 1492) ſeine Vater- ſtadt vollkommen als ein lebendiges Weſen und ihren Ent- wicklungsgang als einen individuell naturgemäßen auf; der erſte unter den Modernen, der dieſes ſo vermocht hat. Es liegt außer unſerm Bereich, zu unterſuchen ob und in welchen Punkten Macchiavell willkürlich verfahren ſein mag, wie er im Leben des Caſtruccio Caſtracane — einem von ihm eigenmächtig colorirten Tyrannentypus — notoriſcher Weiſe gethan hat. Es könnte in den Storie fiorentine gegen jede Zeile irgend etwas einzuwenden ſein und ihr hoher, ja einziger Werth im Ganzen bliebe dennoch beſte- hen. Und ſeine Zeitgenoſſen und Fortſetzer: Jacopo Pitti, Guicciardini, Segni, Varchi, Vettori, welch ein Kranz von erlauchten Namen! Und welche Geſchichte iſt es, die dieſe Meiſter ſchildern! Die letzten Jahrzehnde der florentiniſchen Republik, ein unvergeßlich großes Schauſpiel, ſind uns hier vollſtändig überliefert. In dieſer maſſenhaften Tradition über den Untergang des höchſten, eigenthümlichſten Lebens der damaligen Welt mag der Eine nichts erkennen als eine Sammlung von Curioſitäten erſten Ranges, der Andere mit teufliſcher Freude den Bankerott des Edeln und Er-
1) Was Coſimo (1433—1465) und ſeinen Enkel Lorenzo magnifico (ſt. 1492) betrifft, ſo verzichtet der Verfaſſer auf jedes Urtheil über die innere Politik derſelben. Eine anklagende Stimme von Gewicht (Gino Capponi) ſ. im Archiv. stor. I, p. 315, s.
6*
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0093"n="83"/>
tungsvoll genug, allein an geiſtiger Vollſtändigkeit, an viel-<noteplace="right"><hirendition="#b"><hirendition="#u">1. Abſchnitt.</hi></hi></note><lb/>ſeitiger Begründung des Herganges ſind die Florentiner<lb/>
allen unendlich überlegen. Adelsherrſchaft, Tyrannis, Kämpfe<lb/>
des Mittelſtandes mit dem Proletariat, volle, halbe und<lb/>
Scheindemocratie, Primat eines Hauſes, Theokratie (mit<lb/>
Savonarola), bis auf jene Miſchformen, welche das me-<lb/>
diceiſche Gewaltfürſtenthum vorbereiteten, Alles wird ſo<lb/>
beſchrieben, daß die innerſten Beweggründe der Betheiligten<lb/>
dem Lichte bloß liegen <noteplace="foot"n="1)">Was Coſimo (1433—1465) und ſeinen Enkel Lorenzo magnifico<lb/>
(ſt. 1492) betrifft, ſo verzichtet der Verfaſſer auf jedes Urtheil über<lb/>
die innere Politik derſelben. Eine anklagende Stimme von Gewicht<lb/>
(Gino Capponi) ſ. im <hirendition="#aq">Archiv. stor. I, p. 315, s.</hi></note>. Endlich faßt Macchiavelli in<noteplace="right">Die Geſchicht-<lb/>ſchreiber.</note><lb/>ſeinen florentiniſchen Geſchichten (bis 1492) ſeine Vater-<lb/>ſtadt vollkommen als ein lebendiges Weſen und ihren Ent-<lb/>
wicklungsgang als einen individuell naturgemäßen auf; der<lb/>
erſte unter den Modernen, der dieſes ſo vermocht hat. Es<lb/>
liegt außer unſerm Bereich, zu unterſuchen ob und in<lb/>
welchen Punkten Macchiavell willkürlich verfahren ſein mag,<lb/>
wie er im Leben des Caſtruccio Caſtracane — einem von<lb/>
ihm eigenmächtig colorirten Tyrannentypus — notoriſcher<lb/>
Weiſe gethan hat. Es könnte in den Storie fiorentine<lb/>
gegen jede Zeile irgend etwas einzuwenden ſein und ihr<lb/>
hoher, ja einziger Werth im Ganzen bliebe dennoch beſte-<lb/>
hen. Und ſeine Zeitgenoſſen und Fortſetzer: Jacopo Pitti,<lb/>
Guicciardini, Segni, Varchi, Vettori, welch ein Kranz von<lb/>
erlauchten Namen! Und welche Geſchichte iſt es, die dieſe<lb/>
Meiſter ſchildern! Die letzten Jahrzehnde der florentiniſchen<lb/>
Republik, ein unvergeßlich großes Schauſpiel, ſind uns hier<lb/>
vollſtändig überliefert. In dieſer maſſenhaften Tradition<lb/>
über den Untergang des höchſten, eigenthümlichſten Lebens<lb/>
der damaligen Welt mag der Eine nichts erkennen als<lb/>
eine Sammlung von Curioſitäten erſten Ranges, der Andere<lb/>
mit teufliſcher Freude den Bankerott des Edeln und Er-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">6*</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[83/0093]
tungsvoll genug, allein an geiſtiger Vollſtändigkeit, an viel-
ſeitiger Begründung des Herganges ſind die Florentiner
allen unendlich überlegen. Adelsherrſchaft, Tyrannis, Kämpfe
des Mittelſtandes mit dem Proletariat, volle, halbe und
Scheindemocratie, Primat eines Hauſes, Theokratie (mit
Savonarola), bis auf jene Miſchformen, welche das me-
diceiſche Gewaltfürſtenthum vorbereiteten, Alles wird ſo
beſchrieben, daß die innerſten Beweggründe der Betheiligten
dem Lichte bloß liegen 1). Endlich faßt Macchiavelli in
ſeinen florentiniſchen Geſchichten (bis 1492) ſeine Vater-
ſtadt vollkommen als ein lebendiges Weſen und ihren Ent-
wicklungsgang als einen individuell naturgemäßen auf; der
erſte unter den Modernen, der dieſes ſo vermocht hat. Es
liegt außer unſerm Bereich, zu unterſuchen ob und in
welchen Punkten Macchiavell willkürlich verfahren ſein mag,
wie er im Leben des Caſtruccio Caſtracane — einem von
ihm eigenmächtig colorirten Tyrannentypus — notoriſcher
Weiſe gethan hat. Es könnte in den Storie fiorentine
gegen jede Zeile irgend etwas einzuwenden ſein und ihr
hoher, ja einziger Werth im Ganzen bliebe dennoch beſte-
hen. Und ſeine Zeitgenoſſen und Fortſetzer: Jacopo Pitti,
Guicciardini, Segni, Varchi, Vettori, welch ein Kranz von
erlauchten Namen! Und welche Geſchichte iſt es, die dieſe
Meiſter ſchildern! Die letzten Jahrzehnde der florentiniſchen
Republik, ein unvergeßlich großes Schauſpiel, ſind uns hier
vollſtändig überliefert. In dieſer maſſenhaften Tradition
über den Untergang des höchſten, eigenthümlichſten Lebens
der damaligen Welt mag der Eine nichts erkennen als
eine Sammlung von Curioſitäten erſten Ranges, der Andere
mit teufliſcher Freude den Bankerott des Edeln und Er-
1. Abſchnitt.
Die Geſchicht-
ſchreiber.
1) Was Coſimo (1433—1465) und ſeinen Enkel Lorenzo magnifico
(ſt. 1492) betrifft, ſo verzichtet der Verfaſſer auf jedes Urtheil über
die innere Politik derſelben. Eine anklagende Stimme von Gewicht
(Gino Capponi) ſ. im Archiv. stor. I, p. 315, s.
6*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/93>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.