Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burdach, Karl Friedrich: Propädeutik zum Studium der gesammten Heilkunst. Leipzig, 1800.

Bild:
<< vorherige Seite
Bildung des Arztes.
Fünfte Abtheilung.
Praktische Bildung des Arztes
.


§ 729.

Durch das Studium aller dieser Wissenschaften hat
man nur einen Theil der Bedingungen erfüllt, welche zu
Ausübung der Heilkunst erfordert werden, aber die Kunst
selbst hat man sich dadurch noch nicht eigen gemacht. Denn
bald kann man dem Gedächtnisse etwas eingeprägt, bald aus
Vernunftbegriffen gebildet haben, ohne davon in einzeln vor-
kommenden Fällen den gehörigen Gebrauch machen zu kön-
nen. Man kann das Abstracte inne haben, ohne es im Con-
ereto wieder finden zu können.

Cappel über den Werth der Theorie und der eigenen Erfah-
rung in Beziehung auf die Ausübung der Heilkunde. Göt-
tiugen, 798. 8.
§ 730.

Derjenige verdient, wie wir schon gezeigt haben, den
Namen eines Arztes nicht, welcher dem Gedächtnisse den
ersten Rang unter seinen Seelenkräften einräumt. Sein
Blick gleitet an der Oberfläche der Dinge dahin, und daher
sieht er überall eine vollkommene Analogie; er schließt von
Analogie der Krankheit auf Analogie der Heilmethode, kann
also nur gerade die Mittel auf dieselbe Art anwenden, wie
sie ehemals angewendet worden sind, und seine Kunst schränkt
sich auf eine Anzahl Recepte ein, welche die Routine mit
Probatum! unterzeichnet hat. Er ist eine bloße Receptir-
maschine, deren Feder das Gedächtniß ist. Würkliche Erfah-
rung zu erwerben ist er unvermögend.


§ 731.
P 4
Bildung des Arztes.
Fuͤnfte Abtheilung.
Praktiſche Bildung des Arztes
.


§ 729.

Durch das Studium aller dieſer Wiſſenſchaften hat
man nur einen Theil der Bedingungen erfuͤllt, welche zu
Ausuͤbung der Heilkunſt erfordert werden, aber die Kunſt
ſelbſt hat man ſich dadurch noch nicht eigen gemacht. Denn
bald kann man dem Gedaͤchtniſſe etwas eingepraͤgt, bald aus
Vernunftbegriffen gebildet haben, ohne davon in einzeln vor-
kommenden Faͤllen den gehoͤrigen Gebrauch machen zu koͤn-
nen. Man kann das Abſtracte inne haben, ohne es im Con-
ereto wieder finden zu koͤnnen.

Cappel uͤber den Werth der Theorie und der eigenen Erfah-
rung in Beziehung auf die Ausuͤbung der Heilkunde. Goͤt-
tiugen, 798. 8.
§ 730.

Derjenige verdient, wie wir ſchon gezeigt haben, den
Namen eines Arztes nicht, welcher dem Gedaͤchtniſſe den
erſten Rang unter ſeinen Seelenkraͤften einraͤumt. Sein
Blick gleitet an der Oberflaͤche der Dinge dahin, und daher
ſieht er uͤberall eine vollkommene Analogie; er ſchließt von
Analogie der Krankheit auf Analogie der Heilmethode, kann
alſo nur gerade die Mittel auf dieſelbe Art anwenden, wie
ſie ehemals angewendet worden ſind, und ſeine Kunſt ſchraͤnkt
ſich auf eine Anzahl Recepte ein, welche die Routine mit
Probatum! unterzeichnet hat. Er iſt eine bloße Receptir-
maſchine, deren Feder das Gedaͤchtniß iſt. Wuͤrkliche Erfah-
rung zu erwerben iſt er unvermoͤgend.


§ 731.
P 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <div n="3">
          <pb facs="#f0249" n="231"/>
          <fw place="top" type="header">Bildung des Arztes.</fw><lb/>
          <div n="4">
            <head><hi rendition="#g">Fu&#x0364;nfte Abtheilung.<lb/>
Prakti&#x017F;che Bildung des Arztes</hi>.</head><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
            <div n="5">
              <head>§ 729.</head><lb/>
              <p>Durch das Studium aller die&#x017F;er Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften hat<lb/>
man nur einen Theil der Bedingungen erfu&#x0364;llt, welche zu<lb/>
Ausu&#x0364;bung der Heilkun&#x017F;t erfordert werden, aber die Kun&#x017F;t<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t hat man &#x017F;ich dadurch noch nicht eigen gemacht. Denn<lb/>
bald kann man dem Geda&#x0364;chtni&#x017F;&#x017F;e etwas eingepra&#x0364;gt, bald aus<lb/>
Vernunftbegriffen gebildet haben, ohne davon in einzeln vor-<lb/>
kommenden Fa&#x0364;llen den geho&#x0364;rigen Gebrauch machen zu ko&#x0364;n-<lb/>
nen. Man kann das Ab&#x017F;tracte inne haben, ohne es im Con-<lb/>
ereto wieder finden zu ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
              <list>
                <item><hi rendition="#g">Cappel</hi> u&#x0364;ber den Werth der Theorie und der eigenen Erfah-<lb/>
rung in Beziehung auf die Ausu&#x0364;bung der Heilkunde. Go&#x0364;t-<lb/>
tiugen, 798. 8.</item>
              </list>
            </div><lb/>
            <div n="5">
              <head>§ 730.</head><lb/>
              <p>Derjenige verdient, wie wir &#x017F;chon gezeigt haben, den<lb/>
Namen eines Arztes nicht, welcher dem Geda&#x0364;chtni&#x017F;&#x017F;e den<lb/>
er&#x017F;ten Rang unter &#x017F;einen Seelenkra&#x0364;ften einra&#x0364;umt. Sein<lb/>
Blick gleitet an der Oberfla&#x0364;che der Dinge dahin, und daher<lb/>
&#x017F;ieht er u&#x0364;berall eine vollkommene Analogie; er &#x017F;chließt von<lb/>
Analogie der Krankheit auf Analogie der Heilmethode, kann<lb/>
al&#x017F;o nur gerade die Mittel auf die&#x017F;elbe Art anwenden, wie<lb/>
&#x017F;ie ehemals angewendet worden &#x017F;ind, und &#x017F;eine Kun&#x017F;t &#x017F;chra&#x0364;nkt<lb/>
&#x017F;ich auf eine Anzahl Recepte ein, welche die Routine mit<lb/>
Probatum! unterzeichnet hat. Er i&#x017F;t eine bloße Receptir-<lb/>
ma&#x017F;chine, deren Feder das Geda&#x0364;chtniß i&#x017F;t. Wu&#x0364;rkliche Erfah-<lb/>
rung zu erwerben i&#x017F;t er unvermo&#x0364;gend.</p>
            </div><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">P 4</fw>
            <fw place="bottom" type="catch">§ 731.</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[231/0249] Bildung des Arztes. Fuͤnfte Abtheilung. Praktiſche Bildung des Arztes. § 729. Durch das Studium aller dieſer Wiſſenſchaften hat man nur einen Theil der Bedingungen erfuͤllt, welche zu Ausuͤbung der Heilkunſt erfordert werden, aber die Kunſt ſelbſt hat man ſich dadurch noch nicht eigen gemacht. Denn bald kann man dem Gedaͤchtniſſe etwas eingepraͤgt, bald aus Vernunftbegriffen gebildet haben, ohne davon in einzeln vor- kommenden Faͤllen den gehoͤrigen Gebrauch machen zu koͤn- nen. Man kann das Abſtracte inne haben, ohne es im Con- ereto wieder finden zu koͤnnen. Cappel uͤber den Werth der Theorie und der eigenen Erfah- rung in Beziehung auf die Ausuͤbung der Heilkunde. Goͤt- tiugen, 798. 8. § 730. Derjenige verdient, wie wir ſchon gezeigt haben, den Namen eines Arztes nicht, welcher dem Gedaͤchtniſſe den erſten Rang unter ſeinen Seelenkraͤften einraͤumt. Sein Blick gleitet an der Oberflaͤche der Dinge dahin, und daher ſieht er uͤberall eine vollkommene Analogie; er ſchließt von Analogie der Krankheit auf Analogie der Heilmethode, kann alſo nur gerade die Mittel auf dieſelbe Art anwenden, wie ſie ehemals angewendet worden ſind, und ſeine Kunſt ſchraͤnkt ſich auf eine Anzahl Recepte ein, welche die Routine mit Probatum! unterzeichnet hat. Er iſt eine bloße Receptir- maſchine, deren Feder das Gedaͤchtniß iſt. Wuͤrkliche Erfah- rung zu erwerben iſt er unvermoͤgend. § 731. P 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burdach_propaedeutik_1800
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burdach_propaedeutik_1800/249
Zitationshilfe: Burdach, Karl Friedrich: Propädeutik zum Studium der gesammten Heilkunst. Leipzig, 1800, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burdach_propaedeutik_1800/249>, abgerufen am 21.11.2024.