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Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].

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noch bis heute und übermorgen, abgezäunt. 1 Moll wird
in derselben Absicht gebraucht und übt dieselbe Wirkung auf
uns aus, heute wie vor zweihundert Jahren. Einen Trauer-
marsch kann man heute nicht mehr "komponieren", denn er
ist ein für allemal schon vorhanden. Selbst der ungebildet-
ste
Laie weiß, was ihn erwartet, sobald ein Trauermarsch
- irgendwelcher! - ertönen soll. Selbst der Laie fühlt
den Unterschied zwischen einer Dur- und Moll-Sinfonie
voraus.

Seltsam, daß man Dur und Moll als Gegensätze emp-
findet. Tragen sie doch beide dasselbe Gesicht; jeweilig
heiterer und ernster; und ein kleiner Pinselstrich genügt, eines
in das andere zu kehren. Der Übergang vom einen zum
zweiten ist unmerklich und mühelos - geschieht er oft und
rasch, so beginnen die beiden unerkenntlich ineinander zu
flimmern. Erkennen wir aber, daß Dur und Moll ein
doppeldeutiges Ganzes und daß die "vierundzwanzig Ton-
arten" nur eine elfmalige Transposition jener ersten zwei
sind, so gelangen wir ungezwungen zum Bewußtsein der
Einheit unseres Tonartensystems. Die Begriffe von ver-
wandt und fremd fallen ab - und damit die ganze ver-
wickelte Theorie von Graden und Verhältnissen. Wir
haben eine einzige Tonart. Aber sie ist sehr dürftiger Art.

"Einheit der Tonart."

- "Sie meinen wohl ,Tonart' und ,Tonarten' sind der
Sonnenstrahl und seine Zerlegung in Farben?"

1 So schrieb ich 1906. Die seither verflossenen zehn Jahre haben unser
Ohr ein klein wenig erziehen geholfen.

noch bis heute und übermorgen, abgezäunt. 1 Moll wird
in derselben Absicht gebraucht und übt dieselbe Wirkung auf
uns aus, heute wie vor zweihundert Jahren. Einen Trauer-
marsch kann man heute nicht mehr „komponieren“, denn er
ist ein für allemal schon vorhanden. Selbst der ungebildet-
ste
Laie weiß, was ihn erwartet, sobald ein Trauermarsch
– irgendwelcher! – ertönen soll. Selbst der Laie fühlt
den Unterschied zwischen einer Dur- und Moll-Sinfonie
voraus.

Seltsam, daß man Dur und Moll als Gegensätze emp-
findet. Tragen sie doch beide dasselbe Gesicht; jeweilig
heiterer und ernster; und ein kleiner Pinselstrich genügt, eines
in das andere zu kehren. Der Übergang vom einen zum
zweiten ist unmerklich und mühelos – geschieht er oft und
rasch, so beginnen die beiden unerkenntlich ineinander zu
flimmern. Erkennen wir aber, daß Dur und Moll ein
doppeldeutiges Ganzes und daß die „vierundzwanzig Ton-
arten“ nur eine elfmalige Transposition jener ersten zwei
sind, so gelangen wir ungezwungen zum Bewußtsein der
Einheit unseres Tonartensystems. Die Begriffe von ver-
wandt und fremd fallen ab – und damit die ganze ver-
wickelte Theorie von Graden und Verhältnissen. Wir
haben eine einzige Tonart. Aber sie ist sehr dürftiger Art.

„Einheit der Tonart.“

„Sie meinen wohl ‚Tonart‘ und ‚Tonarten‘ sind der
Sonnenstrahl und seine Zerlegung in Farben?“

1 So schrieb ich 1906. Die seither verflossenen zehn Jahre haben unser
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[39/0039] noch bis heute und übermorgen, abgezäunt. 1 Moll wird in derselben Absicht gebraucht und übt dieselbe Wirkung auf uns aus, heute wie vor zweihundert Jahren. Einen Trauer- marsch kann man heute nicht mehr „komponieren“, denn er ist ein für allemal schon vorhanden. Selbst der ungebildet- ste Laie weiß, was ihn erwartet, sobald ein Trauermarsch – irgendwelcher! – ertönen soll. Selbst der Laie fühlt den Unterschied zwischen einer Dur- und Moll-Sinfonie voraus. Seltsam, daß man Dur und Moll als Gegensätze emp- findet. Tragen sie doch beide dasselbe Gesicht; jeweilig heiterer und ernster; und ein kleiner Pinselstrich genügt, eines in das andere zu kehren. Der Übergang vom einen zum zweiten ist unmerklich und mühelos – geschieht er oft und rasch, so beginnen die beiden unerkenntlich ineinander zu flimmern. Erkennen wir aber, daß Dur und Moll ein doppeldeutiges Ganzes und daß die „vierundzwanzig Ton- arten“ nur eine elfmalige Transposition jener ersten zwei sind, so gelangen wir ungezwungen zum Bewußtsein der Einheit unseres Tonartensystems. Die Begriffe von ver- wandt und fremd fallen ab – und damit die ganze ver- wickelte Theorie von Graden und Verhältnissen. Wir haben eine einzige Tonart. Aber sie ist sehr dürftiger Art. „Einheit der Tonart.“ – „Sie meinen wohl ‚Tonart‘ und ‚Tonarten‘ sind der Sonnenstrahl und seine Zerlegung in Farben?“ 1 So schrieb ich 1906. Die seither verflossenen zehn Jahre haben unser Ohr ein klein wenig erziehen geholfen.

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften, herausgegeben von Christian Schaper und Ullrich Scheideler, Humboldt-Universität zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2019-05-15T13:49:52Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition. (2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat (2019-05-27T13:49:52Z)

Weitere Informationen:

Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.

Die Transkription erfolgte nach den unter https://www.busoni-nachlass.org/de/Projekt/E1000003.html, http://www.deutschestextarchiv.de/doku/basisformat/ formulierten Richtlinien.

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Zitationshilfe: Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/39>, abgerufen am 23.11.2024.