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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783.

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ich dir also etwas umständlich beschreiben und,
damit du sie desto besser übersehen könnest, wil ich
sie in gewisse Klassen ordnen.



Zuerst, mein Sohn, sei vor allen denen
auf deiner Hut, an welchen du eine über-
triebene Freundlichkeit wahrnimst, und
welche, ohne begreifliche Ursache, dir gleich
bei der ersten Bekantschaft eine ungemeine
Liebe beweisen. Shakespear
sagt: "man
kan lächeln, und immer lächeln, und doch ein
Schurke sein;" eine Bemerkung, welche aus
der Fülle einer richtigen Menschenkentniß ge-
schöpft ist. Uebermäßige und also affektierte
Freundlichkeit zeugt wenigstens allemahl entwe-
der von einem sehr einfältigen Verstande, oder von
einem Herzen, das seine Ursachen hat, sich nicht
zu zeigen, wie es ist; und bei einem solchen hat
jeder gescheide Man seine Ursachen, sich in Acht
zu nehmen. Ungemeine Liebe aber, die man
ohne vorhergegangene Bekantschaft uns erweist,
ist in den meisten Fällen Regen ohne Wolke,
Sonnenschein um Mitternacht, moralische Ta-

schen-
M 4

ich dir alſo etwas umſtaͤndlich beſchreiben und,
damit du ſie deſto beſſer uͤberſehen koͤnneſt, wil ich
ſie in gewiſſe Klaſſen ordnen.



Zuerſt, mein Sohn, ſei vor allen denen
auf deiner Hut, an welchen du eine uͤber-
triebene Freundlichkeit wahrnimſt, und
welche, ohne begreifliche Urſache, dir gleich
bei der erſten Bekantſchaft eine ungemeine
Liebe beweiſen. Shakeſpear
ſagt: “man
kan laͤcheln, und immer laͤcheln, und doch ein
Schurke ſein;„ eine Bemerkung, welche aus
der Fuͤlle einer richtigen Menſchenkentniß ge-
ſchoͤpft iſt. Uebermaͤßige und alſo affektierte
Freundlichkeit zeugt wenigſtens allemahl entwe-
der von einem ſehr einfaͤltigen Verſtande, oder von
einem Herzen, das ſeine Urſachen hat, ſich nicht
zu zeigen, wie es iſt; und bei einem ſolchen hat
jeder geſcheide Man ſeine Urſachen, ſich in Acht
zu nehmen. Ungemeine Liebe aber, die man
ohne vorhergegangene Bekantſchaft uns erweist,
iſt in den meiſten Faͤllen Regen ohne Wolke,
Sonnenſchein um Mitternacht, moraliſche Ta-

ſchen-
M 4
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[183/0213] ich dir alſo etwas umſtaͤndlich beſchreiben und, damit du ſie deſto beſſer uͤberſehen koͤnneſt, wil ich ſie in gewiſſe Klaſſen ordnen. Zuerſt, mein Sohn, ſei vor allen denen auf deiner Hut, an welchen du eine uͤber- triebene Freundlichkeit wahrnimſt, und welche, ohne begreifliche Urſache, dir gleich bei der erſten Bekantſchaft eine ungemeine Liebe beweiſen. Shakeſpear ſagt: “man kan laͤcheln, und immer laͤcheln, und doch ein Schurke ſein;„ eine Bemerkung, welche aus der Fuͤlle einer richtigen Menſchenkentniß ge- ſchoͤpft iſt. Uebermaͤßige und alſo affektierte Freundlichkeit zeugt wenigſtens allemahl entwe- der von einem ſehr einfaͤltigen Verſtande, oder von einem Herzen, das ſeine Urſachen hat, ſich nicht zu zeigen, wie es iſt; und bei einem ſolchen hat jeder geſcheide Man ſeine Urſachen, ſich in Acht zu nehmen. Ungemeine Liebe aber, die man ohne vorhergegangene Bekantſchaft uns erweist, iſt in den meiſten Faͤllen Regen ohne Wolke, Sonnenſchein um Mitternacht, moraliſche Ta- ſchen- M 4

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Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/213>, abgerufen am 18.09.2024.