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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783.

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Sind schon die Menschen alle von gleicher Zu-
sammensezung, so haben doch in jedem einzelnen
die mannichfaltigen Theile ein so verschiedentliches
Verhältniß, daß ihrer nicht zween völlig gleich
sind, und nicht einer zu allen Zeiten sich selbst
gleich ist. Der Klügste wird zuweilen etwas
schwachsinniges vornehmen, der Stolzeste etwas
niedriges, der Ehrlichste etwas böses, und der
Gotloseste etwas gutes.

Studiere demnach die einzelnen Personen;
und wenn du, wie du solst, die stärksten Züge
von ihrer herschenden Leidenschaft entlehnst, so
verspare das lezte Ausmahlen, bis daß du die
Wirkungsart ihrer geringern Neigungen, Begier-
den und Launen beobachtet und entdekt hast!

Eines Menschen algemeine Denkungsart kan
die von dem ehrlichsten Man von der Welt sein.
Dawider streite nicht; man würde dich für nei-
disch oder bösartig halten. Zugleich aber nim
nicht diese Ehrlichkeit in solchem Grade auf Treue
und Glauben an, daß du dein Leben, dein Glük
oder deinen guten Nahmen in seine Macht steltest!
Zergliedere erst diesen ehrlichen Man, so wirst du

im

Sind ſchon die Menſchen alle von gleicher Zu-
ſammenſezung, ſo haben doch in jedem einzelnen
die mannichfaltigen Theile ein ſo verſchiedentliches
Verhaͤltniß, daß ihrer nicht zween voͤllig gleich
ſind, und nicht einer zu allen Zeiten ſich ſelbſt
gleich iſt. Der Kluͤgſte wird zuweilen etwas
ſchwachſinniges vornehmen, der Stolzeſte etwas
niedriges, der Ehrlichſte etwas boͤſes, und der
Gotloſeſte etwas gutes.

Studiere demnach die einzelnen Perſonen;
und wenn du, wie du ſolſt, die ſtaͤrkſten Zuͤge
von ihrer herſchenden Leidenſchaft entlehnſt, ſo
verſpare das lezte Ausmahlen, bis daß du die
Wirkungsart ihrer geringern Neigungen, Begier-
den und Launen beobachtet und entdekt haſt!

Eines Menſchen algemeine Denkungsart kan
die von dem ehrlichſten Man von der Welt ſein.
Dawider ſtreite nicht; man wuͤrde dich fuͤr nei-
diſch oder boͤsartig halten. Zugleich aber nim
nicht dieſe Ehrlichkeit in ſolchem Grade auf Treue
und Glauben an, daß du dein Leben, dein Gluͤk
oder deinen guten Nahmen in ſeine Macht ſtelteſt!
Zergliedere erſt dieſen ehrlichen Man, ſo wirſt du

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[110/0116] Sind ſchon die Menſchen alle von gleicher Zu- ſammenſezung, ſo haben doch in jedem einzelnen die mannichfaltigen Theile ein ſo verſchiedentliches Verhaͤltniß, daß ihrer nicht zween voͤllig gleich ſind, und nicht einer zu allen Zeiten ſich ſelbſt gleich iſt. Der Kluͤgſte wird zuweilen etwas ſchwachſinniges vornehmen, der Stolzeſte etwas niedriges, der Ehrlichſte etwas boͤſes, und der Gotloſeſte etwas gutes. Studiere demnach die einzelnen Perſonen; und wenn du, wie du ſolſt, die ſtaͤrkſten Zuͤge von ihrer herſchenden Leidenſchaft entlehnſt, ſo verſpare das lezte Ausmahlen, bis daß du die Wirkungsart ihrer geringern Neigungen, Begier- den und Launen beobachtet und entdekt haſt! Eines Menſchen algemeine Denkungsart kan die von dem ehrlichſten Man von der Welt ſein. Dawider ſtreite nicht; man wuͤrde dich fuͤr nei- diſch oder boͤsartig halten. Zugleich aber nim nicht dieſe Ehrlichkeit in ſolchem Grade auf Treue und Glauben an, daß du dein Leben, dein Gluͤk oder deinen guten Nahmen in ſeine Macht ſtelteſt! Zergliedere erſt dieſen ehrlichen Man, ſo wirſt du im

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Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783/116>, abgerufen am 04.12.2024.