her, daß eine sehr häufige Reitzung, ein vermehrtes Hin- wenden auf das Aeußere veranlaßt, und die Erregbar- keit eben dadurch bis auf einen gewissen Grad immerfort steigert, dann aber lähmt, und werden von hier aus auch über die Ursache der so beträchtlich gesteigerten Sensibilität junger, kunstreich und zärtlich erzogener (d. i. von Jugend auf mit den mannigfaltigsten Reitzen umgebener) Mädchen Aufschluß erhalten können, eine Sensibilität, die sich dann oft durch die sonderbarsten Erscheinungen kund giebt. Hierher gehören die Idiosynkrasien, wo Personen dieser Art den Ge- ruch oder Geschmack gewisser Dinge, ja selbst gewisse Farben oder Töne, so wie die Anwesenheit mancher Thiere (beson- ders der Katzen, wahrscheinlich zum Theil ihrer starken Elek- tricität wegen) nicht vertragen können, sondern davon ohn- mächtig, zum Erbrechen gereitzt, oder sonst krankhaft afficirt werden; besonders merkwürdig aber ist die aus einem zu starken Eindruck entspringende Nachahmungssucht, welche in einem gewissen Grade auch dem gesunden Menschen, ja schon so vielen Thieren eingeprägt ist, und über deren Grund wir noch einige Betrachtungen beyfügen.
§. 243.
Wenn wir nämlich die verschiedenen Arten der Erre- gung überhaupt durchgehen, so zeigt sich, daß da, wo noch die Einheit der Organisation unvollkommen, ihr leiblicher Re- präsentant, das Nervensystem, noch nicht gebildet ist, eine Erregung von außen auch unmittelbar die Reaktion be- dingt; ein Polyp, ein Blatt der Dionaea Muscipula ziehen sich daher unfehlbar zusammen, sobald sie berührt werden. Mit der größern Selbstständigkeit hingegen, der größern Aus- bildung der im Nervensystem wirkenden Kraft, wird es im- mer vollkommner in die Willkühr des Organismus gestellt, ob eine Reaktion erfolgen solle oder nicht. Dieser Gang wie- derholt sich vollkommen in einer höhern Sphäre. Die schwä- chere Individualität, wie sie im Kinde, wie sie zum Theil auch im Weibe erscheint, erkennt leicht, und zwar eben weil sie noch inniger im großen Naturkreise und weniger isolirt lebt, den fremden Willen für den eigenen; unmittelbar, wenn
her, daß eine ſehr haͤufige Reitzung, ein vermehrtes Hin- wenden auf das Aeußere veranlaßt, und die Erregbar- keit eben dadurch bis auf einen gewiſſen Grad immerfort ſteigert, dann aber laͤhmt, und werden von hier aus auch uͤber die Urſache der ſo betraͤchtlich geſteigerten Senſibilitaͤt junger, kunſtreich und zaͤrtlich erzogener (d. i. von Jugend auf mit den mannigfaltigſten Reitzen umgebener) Maͤdchen Aufſchluß erhalten koͤnnen, eine Senſibilitaͤt, die ſich dann oft durch die ſonderbarſten Erſcheinungen kund giebt. Hierher gehoͤren die Idioſynkraſien, wo Perſonen dieſer Art den Ge- ruch oder Geſchmack gewiſſer Dinge, ja ſelbſt gewiſſe Farben oder Toͤne, ſo wie die Anweſenheit mancher Thiere (beſon- ders der Katzen, wahrſcheinlich zum Theil ihrer ſtarken Elek- tricitaͤt wegen) nicht vertragen koͤnnen, ſondern davon ohn- maͤchtig, zum Erbrechen gereitzt, oder ſonſt krankhaft afficirt werden; beſonders merkwuͤrdig aber iſt die aus einem zu ſtarken Eindruck entſpringende Nachahmungsſucht, welche in einem gewiſſen Grade auch dem geſunden Menſchen, ja ſchon ſo vielen Thieren eingepraͤgt iſt, und uͤber deren Grund wir noch einige Betrachtungen beyfuͤgen.
§. 243.
Wenn wir naͤmlich die verſchiedenen Arten der Erre- gung uͤberhaupt durchgehen, ſo zeigt ſich, daß da, wo noch die Einheit der Organiſation unvollkommen, ihr leiblicher Re- praͤſentant, das Nervenſyſtem, noch nicht gebildet iſt, eine Erregung von außen auch unmittelbar die Reaktion be- dingt; ein Polyp, ein Blatt der Dionaea Muscipula ziehen ſich daher unfehlbar zuſammen, ſobald ſie beruͤhrt werden. Mit der groͤßern Selbſtſtaͤndigkeit hingegen, der groͤßern Aus- bildung der im Nervenſyſtem wirkenden Kraft, wird es im- mer vollkommner in die Willkuͤhr des Organismus geſtellt, ob eine Reaktion erfolgen ſolle oder nicht. Dieſer Gang wie- derholt ſich vollkommen in einer hoͤhern Sphaͤre. Die ſchwaͤ- chere Individualitaͤt, wie ſie im Kinde, wie ſie zum Theil auch im Weibe erſcheint, erkennt leicht, und zwar eben weil ſie noch inniger im großen Naturkreiſe und weniger iſolirt lebt, den fremden Willen fuͤr den eigenen; unmittelbar, wenn
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her, daß eine ſehr haͤufige Reitzung, ein vermehrtes Hin-
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keit eben dadurch bis auf einen gewiſſen Grad immerfort
ſteigert, dann aber laͤhmt, und werden von hier aus auch
uͤber die Urſache der ſo betraͤchtlich geſteigerten Senſibilitaͤt
junger, kunſtreich und zaͤrtlich erzogener (d. i. von Jugend
auf mit den mannigfaltigſten Reitzen umgebener) Maͤdchen
Aufſchluß erhalten koͤnnen, eine Senſibilitaͤt, die ſich dann
oft durch die ſonderbarſten Erſcheinungen kund giebt. Hierher
gehoͤren die Idioſynkraſien, wo Perſonen dieſer Art den Ge-
ruch oder Geſchmack gewiſſer Dinge, ja ſelbſt gewiſſe Farben
oder Toͤne, ſo wie die Anweſenheit mancher Thiere (beſon-
ders der Katzen, wahrſcheinlich zum Theil ihrer ſtarken Elek-
tricitaͤt wegen) nicht vertragen koͤnnen, ſondern davon ohn-
maͤchtig, zum Erbrechen gereitzt, oder ſonſt krankhaft afficirt
werden; beſonders merkwuͤrdig aber iſt die aus einem zu
ſtarken Eindruck entſpringende Nachahmungsſucht, welche in
einem gewiſſen Grade auch dem geſunden Menſchen, ja ſchon
ſo vielen Thieren eingepraͤgt iſt, und uͤber deren Grund wir
noch einige Betrachtungen beyfuͤgen.
§. 243.
Wenn wir naͤmlich die verſchiedenen Arten der Erre-
gung uͤberhaupt durchgehen, ſo zeigt ſich, daß da, wo noch
die Einheit der Organiſation unvollkommen, ihr leiblicher Re-
praͤſentant, das Nervenſyſtem, noch nicht gebildet iſt, eine
Erregung von außen auch unmittelbar die Reaktion be-
dingt; ein Polyp, ein Blatt der Dionaea Muscipula ziehen
ſich daher unfehlbar zuſammen, ſobald ſie beruͤhrt werden.
Mit der groͤßern Selbſtſtaͤndigkeit hingegen, der groͤßern Aus-
bildung der im Nervenſyſtem wirkenden Kraft, wird es im-
mer vollkommner in die Willkuͤhr des Organismus geſtellt,
ob eine Reaktion erfolgen ſolle oder nicht. Dieſer Gang wie-
derholt ſich vollkommen in einer hoͤhern Sphaͤre. Die ſchwaͤ-
chere Individualitaͤt, wie ſie im Kinde, wie ſie zum Theil
auch im Weibe erſcheint, erkennt leicht, und zwar eben weil
ſie noch inniger im großen Naturkreiſe und weniger iſolirt
lebt, den fremden Willen fuͤr den eigenen; unmittelbar, wenn
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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/204>, abgerufen am 21.11.2024.
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