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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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halb des Bewußtseins lag. Also weil wir kein Bewußtsein
davon haben, wie wir entstehen, wie wir wachsen, wie
wir uns innerlich ernähren und umbilden, wohl aber ein
Bewußtsein haben von Allem, was in uns Sinnesempfin¬
dung, Vorstellung und Willensregung heißt, so durften
nur die letztern Vorgänge allein der Seele wirklich ange¬
hören, während dagegen alles Andere von der Seele aus
unerklärlich blieb und deßhalb einem besondern Thun, einer
eigenthümlichen unbekannten Potenz, einer sogenannten Le¬
benskraft anheimfallen sollte.

Das Bewußtsein, das klare Denken, oder mindestens
das Vermögen, deutliche Sinnesvorstellungen zu haben
und dadurch bestimmt zu werden, wurde im Stillen so
unfehlbar als ein Creditiv der Seele angesehen, daß man
nichts als Seele gelten lassen wollte, dem dieses Ver¬
mögen nicht zugesprochen werden konnte.

Was aber war die Folge, wenn man dieser Täuschung
sich hingab und eine besondere Lebenskraft einsetzte für die
bildend ernährenden Vorgänge des Organismus, und eine
besondere Seele für Gefühl, Erkennen und Wollen? Man
führte zwei verschiedene Seelen, oder zwei wesent¬
lich verschiedene Grundkräfte
in den Organismus
ein, welcher sich doch nach Entstehung, nach Lebensrichtung
und Selbstgefühl, als eine Einheit unbestreitbar erwies.
Denn Lebenskraft oder Bildungstrieb, wie man nun dies Et¬
was nennen will, wird immer und in jeder Aeußerung nicht
ein von außen Bewegtes, sondern ein sich aus sich selbst
Bewegendes sein müssen, und wird eben dadurch ein des
Göttlichen Theilhaftiges genannt werden müssen, da es
diesem ja überall eigen ist, nicht bewegt zu werden, son¬
dern aus sich selbst sich und Fremdes zu bewegen 1. Ein

1 Hieher die schöne Stelle des Plato (Phaidros S. 245): "Jede
Seele ist unsterblich. Denn das stets Bewegte ist unsterblich, was aber
Anderes bewegt und selbst von Anderem bewegt wird, und also einen
Abschnitt der Bewegung hat, hat auch einen Abschnitt des Lebens. Nur
also das sich selbst Bewegende
, weil es nie sich selbst verläßt,

halb des Bewußtſeins lag. Alſo weil wir kein Bewußtſein
davon haben, wie wir entſtehen, wie wir wachſen, wie
wir uns innerlich ernähren und umbilden, wohl aber ein
Bewußtſein haben von Allem, was in uns Sinnesempfin¬
dung, Vorſtellung und Willensregung heißt, ſo durften
nur die letztern Vorgänge allein der Seele wirklich ange¬
hören, während dagegen alles Andere von der Seele aus
unerklärlich blieb und deßhalb einem beſondern Thun, einer
eigenthümlichen unbekannten Potenz, einer ſogenannten Le¬
benskraft anheimfallen ſollte.

Das Bewußtſein, das klare Denken, oder mindeſtens
das Vermögen, deutliche Sinnesvorſtellungen zu haben
und dadurch beſtimmt zu werden, wurde im Stillen ſo
unfehlbar als ein Creditiv der Seele angeſehen, daß man
nichts als Seele gelten laſſen wollte, dem dieſes Ver¬
mögen nicht zugeſprochen werden konnte.

Was aber war die Folge, wenn man dieſer Täuſchung
ſich hingab und eine beſondere Lebenskraft einſetzte für die
bildend ernährenden Vorgänge des Organismus, und eine
beſondere Seele für Gefühl, Erkennen und Wollen? Man
führte zwei verſchiedene Seelen, oder zwei weſent¬
lich verſchiedene Grundkräfte
in den Organismus
ein, welcher ſich doch nach Entſtehung, nach Lebensrichtung
und Selbſtgefühl, als eine Einheit unbeſtreitbar erwies.
Denn Lebenskraft oder Bildungstrieb, wie man nun dies Et¬
was nennen will, wird immer und in jeder Aeußerung nicht
ein von außen Bewegtes, ſondern ein ſich aus ſich ſelbſt
Bewegendes ſein müſſen, und wird eben dadurch ein des
Göttlichen Theilhaftiges genannt werden müſſen, da es
dieſem ja überall eigen iſt, nicht bewegt zu werden, ſon¬
dern aus ſich ſelbſt ſich und Fremdes zu bewegen 1. Ein

1 Hieher die ſchöne Stelle des Plato (Phaidros S. 245): „Jede
Seele iſt unſterblich. Denn das ſtets Bewegte iſt unſterblich, was aber
Anderes bewegt und ſelbſt von Anderem bewegt wird, und alſo einen
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[6/0022] halb des Bewußtſeins lag. Alſo weil wir kein Bewußtſein davon haben, wie wir entſtehen, wie wir wachſen, wie wir uns innerlich ernähren und umbilden, wohl aber ein Bewußtſein haben von Allem, was in uns Sinnesempfin¬ dung, Vorſtellung und Willensregung heißt, ſo durften nur die letztern Vorgänge allein der Seele wirklich ange¬ hören, während dagegen alles Andere von der Seele aus unerklärlich blieb und deßhalb einem beſondern Thun, einer eigenthümlichen unbekannten Potenz, einer ſogenannten Le¬ benskraft anheimfallen ſollte. Das Bewußtſein, das klare Denken, oder mindeſtens das Vermögen, deutliche Sinnesvorſtellungen zu haben und dadurch beſtimmt zu werden, wurde im Stillen ſo unfehlbar als ein Creditiv der Seele angeſehen, daß man nichts als Seele gelten laſſen wollte, dem dieſes Ver¬ mögen nicht zugeſprochen werden konnte. Was aber war die Folge, wenn man dieſer Täuſchung ſich hingab und eine beſondere Lebenskraft einſetzte für die bildend ernährenden Vorgänge des Organismus, und eine beſondere Seele für Gefühl, Erkennen und Wollen? Man führte zwei verſchiedene Seelen, oder zwei weſent¬ lich verſchiedene Grundkräfte in den Organismus ein, welcher ſich doch nach Entſtehung, nach Lebensrichtung und Selbſtgefühl, als eine Einheit unbeſtreitbar erwies. Denn Lebenskraft oder Bildungstrieb, wie man nun dies Et¬ was nennen will, wird immer und in jeder Aeußerung nicht ein von außen Bewegtes, ſondern ein ſich aus ſich ſelbſt Bewegendes ſein müſſen, und wird eben dadurch ein des Göttlichen Theilhaftiges genannt werden müſſen, da es dieſem ja überall eigen iſt, nicht bewegt zu werden, ſon¬ dern aus ſich ſelbſt ſich und Fremdes zu bewegen 1. Ein 1 Hieher die ſchöne Stelle des Plato (Phaidros S. 245): „Jede Seele iſt unſterblich. Denn das ſtets Bewegte iſt unſterblich, was aber Anderes bewegt und ſelbſt von Anderem bewegt wird, und alſo einen Abſchnitt der Bewegung hat, hat auch einen Abſchnitt des Lebens. Nur alſo das ſich ſelbſt Bewegende, weil es nie ſich ſelbſt verläßt,

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/22>, abgerufen am 21.11.2024.