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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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erscheint, aber dagegen auch rastlos vorwärts getrieben
wird, immer neuen Metamorphosen entgegen eilt, und so
zuletzt eine Weite und Größe erreichen kann, welcher wir,
wenn sie mit innerer Wahrheit und Schönheit gepaart ist,
stets die außerordentlichsten Leistungen für gesammte Mensch¬
heit zu verdanken gehabt haben. Unter den Menschen ist
von jeher zwischen diesen verschiedenen Naturen viel Un¬
frieden und Streit entstanden und um so mehr, je grund¬
wesentlicher die Verschiedenheit ist, welche hier obwaltet, und
je weniger sie also von irgend zufällig einwirkenden äußern
Verhältnissen, sondern jemehr sie von erster innerer Anlage
abhängt. Ein Gleichniß dieses letztern Verhältnisses ge¬
währt es, wenn wir in der Pflanzen- und Thierwelt ein¬
zelne Geschöpfe erblicken, welche auf einem gewissen Punkte
entschieden ihr Wachsthum abschließen, dann fertig sind und
niemals von da an zu einer Weiterbildung gelangen, wo¬
gegen andere je länger ihr Leben dauert, um so mehr sich
vergrößern, ausbreiten und fortbilden; die erstern lassen
sich durch nichts in der Welt über die ihnen bestimmten
Höhenpunkte hinausbringen und bei den andern vermag
keine Macht ihre stäte Weiterentwicklung ganz zu hemmen,
so lange ihr Leben überhaupt nicht zerstört werden soll. So
also auch in den Seelen -- in den Geistern der Menschen.
Die mit sich zeitig Abschließenden, fest Gewordenen, rühmen
sich ihrer Consequenz, Zufriedenheit und Sicherheit, wäh¬
rend die Beweglichen und sich stätig Fortbildenden ihnen
Härte, Einseitigkeit und Zurückbleiben im Fortschritt der
Menschheit Schuld geben. Umgekehrt erfreuen die Letztern
sich ihrer Empfänglichkeit und ihrer Metamorphosen, ge¬
langen aber eben wegen ihrer stätigen Umwandlung nie zu
einem gewissen Genügen mit ihrem Schicksale, leben mehr
zwischen der Qual des Aufgebens und der Lust des Auf¬
nehmens und Werdens in einem stets bewegten Zustande,
und die Festgewordenen werfen ihnen deßhalb gewöhnlich
ihre Weichheit, Unstätigkeit, Wankelmüthigkeit, Unzufrie¬

erſcheint, aber dagegen auch raſtlos vorwärts getrieben
wird, immer neuen Metamorphoſen entgegen eilt, und ſo
zuletzt eine Weite und Größe erreichen kann, welcher wir,
wenn ſie mit innerer Wahrheit und Schönheit gepaart iſt,
ſtets die außerordentlichſten Leiſtungen für geſammte Menſch¬
heit zu verdanken gehabt haben. Unter den Menſchen iſt
von jeher zwiſchen dieſen verſchiedenen Naturen viel Un¬
frieden und Streit entſtanden und um ſo mehr, je grund¬
weſentlicher die Verſchiedenheit iſt, welche hier obwaltet, und
je weniger ſie alſo von irgend zufällig einwirkenden äußern
Verhältniſſen, ſondern jemehr ſie von erſter innerer Anlage
abhängt. Ein Gleichniß dieſes letztern Verhältniſſes ge¬
währt es, wenn wir in der Pflanzen- und Thierwelt ein¬
zelne Geſchöpfe erblicken, welche auf einem gewiſſen Punkte
entſchieden ihr Wachsthum abſchließen, dann fertig ſind und
niemals von da an zu einer Weiterbildung gelangen, wo¬
gegen andere je länger ihr Leben dauert, um ſo mehr ſich
vergrößern, ausbreiten und fortbilden; die erſtern laſſen
ſich durch nichts in der Welt über die ihnen beſtimmten
Höhenpunkte hinausbringen und bei den andern vermag
keine Macht ihre ſtäte Weiterentwicklung ganz zu hemmen,
ſo lange ihr Leben überhaupt nicht zerſtört werden ſoll. So
alſo auch in den Seelen — in den Geiſtern der Menſchen.
Die mit ſich zeitig Abſchließenden, feſt Gewordenen, rühmen
ſich ihrer Conſequenz, Zufriedenheit und Sicherheit, wäh¬
rend die Beweglichen und ſich ſtätig Fortbildenden ihnen
Härte, Einſeitigkeit und Zurückbleiben im Fortſchritt der
Menſchheit Schuld geben. Umgekehrt erfreuen die Letztern
ſich ihrer Empfänglichkeit und ihrer Metamorphoſen, ge¬
langen aber eben wegen ihrer ſtätigen Umwandlung nie zu
einem gewiſſen Genügen mit ihrem Schickſale, leben mehr
zwiſchen der Qual des Aufgebens und der Luſt des Auf¬
nehmens und Werdens in einem ſtets bewegten Zuſtande,
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[247/0263] erſcheint, aber dagegen auch raſtlos vorwärts getrieben wird, immer neuen Metamorphoſen entgegen eilt, und ſo zuletzt eine Weite und Größe erreichen kann, welcher wir, wenn ſie mit innerer Wahrheit und Schönheit gepaart iſt, ſtets die außerordentlichſten Leiſtungen für geſammte Menſch¬ heit zu verdanken gehabt haben. Unter den Menſchen iſt von jeher zwiſchen dieſen verſchiedenen Naturen viel Un¬ frieden und Streit entſtanden und um ſo mehr, je grund¬ weſentlicher die Verſchiedenheit iſt, welche hier obwaltet, und je weniger ſie alſo von irgend zufällig einwirkenden äußern Verhältniſſen, ſondern jemehr ſie von erſter innerer Anlage abhängt. Ein Gleichniß dieſes letztern Verhältniſſes ge¬ währt es, wenn wir in der Pflanzen- und Thierwelt ein¬ zelne Geſchöpfe erblicken, welche auf einem gewiſſen Punkte entſchieden ihr Wachsthum abſchließen, dann fertig ſind und niemals von da an zu einer Weiterbildung gelangen, wo¬ gegen andere je länger ihr Leben dauert, um ſo mehr ſich vergrößern, ausbreiten und fortbilden; die erſtern laſſen ſich durch nichts in der Welt über die ihnen beſtimmten Höhenpunkte hinausbringen und bei den andern vermag keine Macht ihre ſtäte Weiterentwicklung ganz zu hemmen, ſo lange ihr Leben überhaupt nicht zerſtört werden ſoll. So alſo auch in den Seelen — in den Geiſtern der Menſchen. Die mit ſich zeitig Abſchließenden, feſt Gewordenen, rühmen ſich ihrer Conſequenz, Zufriedenheit und Sicherheit, wäh¬ rend die Beweglichen und ſich ſtätig Fortbildenden ihnen Härte, Einſeitigkeit und Zurückbleiben im Fortſchritt der Menſchheit Schuld geben. Umgekehrt erfreuen die Letztern ſich ihrer Empfänglichkeit und ihrer Metamorphoſen, ge¬ langen aber eben wegen ihrer ſtätigen Umwandlung nie zu einem gewiſſen Genügen mit ihrem Schickſale, leben mehr zwiſchen der Qual des Aufgebens und der Luſt des Auf¬ nehmens und Werdens in einem ſtets bewegten Zuſtande, und die Feſtgewordenen werfen ihnen deßhalb gewöhnlich ihre Weichheit, Unſtätigkeit, Wankelmüthigkeit, Unzufrie¬

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/263>, abgerufen am 26.11.2024.