Wenn man Freude und Trauer in gewisser Beziehung als passive und subjective Gefühle bezeichnen kann, indem sie mehr in sich ruhen und ohne bestimmte Begehrungen oder Ablehnungen nach außen erscheinen, so treten dagegen Liebe und Haß als active und zugleich mehr objective Ge¬ fühle auf, da ihr innerstes Wesen darauf beruht, entschieden aus sich herauszugehen, entschieden das Geliebte anzuziehen und von ihm angezogen zu werden, und eben so entschieden das Verhaßte zurückzustoßen und sich von ihm zurückstoßen zu lassen. Beide active Gefühle erhalten dadurch allemal eine gewisse Gewaltsamkeit, und können in einzelnen Fällen zu einer Heftigkeit sich steigern, unter welcher das ganze Dasein des Menschen zusammenbricht, ja, des damit ver¬ bundenen Schmerzes, der daran geknüpften Leiden wegen nennen wir dann Liebe und Haß nicht mehr Gefühle, sondern Leidenschaften. Freude und Trauer können nicht zur Leidenschaft werden, und selbst von den beiden activen ist das Positive so weit mächtiger, aber auch so weit mehr zum Uebergang in Leidenschaft geeignet, als das negative.
Uebernehmen wir jetzt tiefer einzudringen in die Ge¬ schichte des mächtigsten aller Gefühle, in die der Liebe, so muß vor allen Dingen lebendig festgehalten werden, daß, wie jedes, so auch dieses, und namentlich dieses, nur halb auf dem Bewußtsein und zur andern Hälfte auf dem Un¬ bewußtsein ruht. Wenn wir nun im Bewußtsein etwas in seinen Eigenschaften untersuchen, und, weil wir diese als vortrefflich erkennen, unser Gefallen daran empfinden und wohl auch, eben dieser Vortrefflichkeit wegen, wünschen diesem Gegenstand nahe zu bleiben und ihn bleibend um uns zu haben, so ist das Unbewußte in uns dabei durch¬ aus unbetheiligt; aber eben darum ist auch alsdann von Liebe schlechterdings nicht die Rede. Liebe setzt also nothwen¬ dig voraus ein tieferes Ergriffensein zugleich des Unbe¬
3. Die Geſchichte der Liebe.
Wenn man Freude und Trauer in gewiſſer Beziehung als paſſive und ſubjective Gefühle bezeichnen kann, indem ſie mehr in ſich ruhen und ohne beſtimmte Begehrungen oder Ablehnungen nach außen erſcheinen, ſo treten dagegen Liebe und Haß als active und zugleich mehr objective Ge¬ fühle auf, da ihr innerſtes Weſen darauf beruht, entſchieden aus ſich herauszugehen, entſchieden das Geliebte anzuziehen und von ihm angezogen zu werden, und eben ſo entſchieden das Verhaßte zurückzuſtoßen und ſich von ihm zurückſtoßen zu laſſen. Beide active Gefühle erhalten dadurch allemal eine gewiſſe Gewaltſamkeit, und können in einzelnen Fällen zu einer Heftigkeit ſich ſteigern, unter welcher das ganze Daſein des Menſchen zuſammenbricht, ja, des damit ver¬ bundenen Schmerzes, der daran geknüpften Leiden wegen nennen wir dann Liebe und Haß nicht mehr Gefühle, ſondern Leidenſchaften. Freude und Trauer können nicht zur Leidenſchaft werden, und ſelbſt von den beiden activen iſt das Poſitive ſo weit mächtiger, aber auch ſo weit mehr zum Uebergang in Leidenſchaft geeignet, als das negative.
Uebernehmen wir jetzt tiefer einzudringen in die Ge¬ ſchichte des mächtigſten aller Gefühle, in die der Liebe, ſo muß vor allen Dingen lebendig feſtgehalten werden, daß, wie jedes, ſo auch dieſes, und namentlich dieſes, nur halb auf dem Bewußtſein und zur andern Hälfte auf dem Un¬ bewußtſein ruht. Wenn wir nun im Bewußtſein etwas in ſeinen Eigenſchaften unterſuchen, und, weil wir dieſe als vortrefflich erkennen, unſer Gefallen daran empfinden und wohl auch, eben dieſer Vortrefflichkeit wegen, wünſchen dieſem Gegenſtand nahe zu bleiben und ihn bleibend um uns zu haben, ſo iſt das Unbewußte in uns dabei durch¬ aus unbetheiligt; aber eben darum iſt auch alsdann von Liebe ſchlechterdings nicht die Rede. Liebe ſetzt alſo nothwen¬ dig voraus ein tieferes Ergriffenſein zugleich des Unbe¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0298"n="282"/></div><divn="4"><head>3. Die Geſchichte der Liebe.<lb/></head><p>Wenn man Freude und Trauer in gewiſſer Beziehung<lb/>
als paſſive und ſubjective Gefühle bezeichnen kann, indem<lb/>ſie mehr in ſich ruhen und ohne beſtimmte Begehrungen<lb/>
oder Ablehnungen nach außen erſcheinen, ſo treten dagegen<lb/>
Liebe und Haß als active und zugleich mehr objective Ge¬<lb/>
fühle auf, da ihr innerſtes Weſen darauf beruht, entſchieden<lb/>
aus ſich herauszugehen, entſchieden das Geliebte anzuziehen<lb/>
und von ihm angezogen zu werden, und eben ſo entſchieden<lb/>
das Verhaßte zurückzuſtoßen und ſich von ihm zurückſtoßen<lb/>
zu laſſen. Beide active Gefühle erhalten dadurch allemal<lb/>
eine gewiſſe Gewaltſamkeit, und können in einzelnen Fällen<lb/>
zu einer Heftigkeit ſich ſteigern, unter welcher das ganze<lb/>
Daſein des Menſchen zuſammenbricht, ja, des damit ver¬<lb/>
bundenen Schmerzes, der daran geknüpften Leiden wegen<lb/>
nennen wir dann Liebe und Haß nicht mehr Gefühle, ſondern<lb/><hirendition="#g">Leidenſchaften</hi>. Freude und Trauer können nicht zur<lb/>
Leidenſchaft werden, und ſelbſt von den beiden activen iſt<lb/>
das Poſitive ſo weit mächtiger, aber auch ſo weit mehr<lb/>
zum Uebergang in Leidenſchaft geeignet, als das negative.</p><lb/><p>Uebernehmen wir jetzt tiefer einzudringen in die Ge¬<lb/>ſchichte des mächtigſten aller Gefühle, in die der Liebe, ſo<lb/>
muß vor allen Dingen lebendig feſtgehalten werden, daß,<lb/>
wie jedes, ſo auch dieſes, und namentlich dieſes, nur halb<lb/>
auf dem Bewußtſein und zur andern Hälfte auf dem Un¬<lb/>
bewußtſein ruht. Wenn wir nun im Bewußtſein etwas<lb/>
in ſeinen Eigenſchaften unterſuchen, und, weil wir dieſe<lb/>
als vortrefflich erkennen, unſer Gefallen daran empfinden<lb/>
und wohl auch, eben dieſer Vortrefflichkeit wegen, wünſchen<lb/>
dieſem Gegenſtand nahe zu bleiben und ihn bleibend um<lb/>
uns zu haben, ſo iſt das Unbewußte in uns dabei durch¬<lb/>
aus unbetheiligt; aber eben darum iſt auch alsdann von<lb/>
Liebe ſchlechterdings nicht die Rede. Liebe ſetzt alſo nothwen¬<lb/>
dig voraus ein tieferes Ergriffenſein zugleich <hirendition="#g">des Unbe¬<lb/></hi></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[282/0298]
3. Die Geſchichte der Liebe.
Wenn man Freude und Trauer in gewiſſer Beziehung
als paſſive und ſubjective Gefühle bezeichnen kann, indem
ſie mehr in ſich ruhen und ohne beſtimmte Begehrungen
oder Ablehnungen nach außen erſcheinen, ſo treten dagegen
Liebe und Haß als active und zugleich mehr objective Ge¬
fühle auf, da ihr innerſtes Weſen darauf beruht, entſchieden
aus ſich herauszugehen, entſchieden das Geliebte anzuziehen
und von ihm angezogen zu werden, und eben ſo entſchieden
das Verhaßte zurückzuſtoßen und ſich von ihm zurückſtoßen
zu laſſen. Beide active Gefühle erhalten dadurch allemal
eine gewiſſe Gewaltſamkeit, und können in einzelnen Fällen
zu einer Heftigkeit ſich ſteigern, unter welcher das ganze
Daſein des Menſchen zuſammenbricht, ja, des damit ver¬
bundenen Schmerzes, der daran geknüpften Leiden wegen
nennen wir dann Liebe und Haß nicht mehr Gefühle, ſondern
Leidenſchaften. Freude und Trauer können nicht zur
Leidenſchaft werden, und ſelbſt von den beiden activen iſt
das Poſitive ſo weit mächtiger, aber auch ſo weit mehr
zum Uebergang in Leidenſchaft geeignet, als das negative.
Uebernehmen wir jetzt tiefer einzudringen in die Ge¬
ſchichte des mächtigſten aller Gefühle, in die der Liebe, ſo
muß vor allen Dingen lebendig feſtgehalten werden, daß,
wie jedes, ſo auch dieſes, und namentlich dieſes, nur halb
auf dem Bewußtſein und zur andern Hälfte auf dem Un¬
bewußtſein ruht. Wenn wir nun im Bewußtſein etwas
in ſeinen Eigenſchaften unterſuchen, und, weil wir dieſe
als vortrefflich erkennen, unſer Gefallen daran empfinden
und wohl auch, eben dieſer Vortrefflichkeit wegen, wünſchen
dieſem Gegenſtand nahe zu bleiben und ihn bleibend um
uns zu haben, ſo iſt das Unbewußte in uns dabei durch¬
aus unbetheiligt; aber eben darum iſt auch alsdann von
Liebe ſchlechterdings nicht die Rede. Liebe ſetzt alſo nothwen¬
dig voraus ein tieferes Ergriffenſein zugleich des Unbe¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/298>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.